Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
Triumph.
„Überallhin", sagte sie.
„Aber warum -"
„Warum wir das nicht längst getan haben? Weil es so einfach nicht ist. Ich brauche etwas dafür, dasselbe, womit Arcimboldo das Tor im Spiegel geöffnet hat, damals in der Werkstatt."
Merle sah die Szene vor sich aufblitzen: Arcimboldo, wie er sich vor dem Spiegel verbeugte und die Lippen bewegte. Wie er lautlos ein Wort formulierte.
„Das Gläserne Wort", sagte Junipa, als ließe sie den Klang der Silben auf ihrer Zunge zergehen. „Ich hab nicht gewusst, dass man es so nennt."
„Und du weißt nicht, wie es lautet?"
„Nein", sagte Junipa. „Arcimboldo wurde ermordet, bevor er es mir verraten konnte."
Großer Gott, dachte Serafin, als Lalapeja ihre rechte Hand aus dem Wasser zog. Sie war bis zum Gelenk grau, fast blau, und sah aus wie aus Wachs geformt. Sie hing am Ende ihres Armes, als gehörte sie nicht mehr zum Körper. Leblos, wie abgestorben.
Die Züge der Sphinx waren schmerzverzerrt, aber noch immer brannte das Feuer ihrer Willensstärke in den rehbraunen Augen.
„Unke", sagte sie, ohne Serafin zu beachten.
Unke beugte sich rasch vor und wollte Lalapeja beim Aufstehen helfen, aber sie hatte die Sphinx missverstanden: Lalapeja bat nicht um Hilfe.
„Merle braucht... das Wort", sagte sie verbissen.
Unke schüttelte den Kopf. „Wir müssen uns um die Hand kümmern. Wenn wir es irgendwie schaffen, ein Feuer -"
„Nein." Lalapeja schaute Unke bittend an. „Erst das Wort."
„Was meint sie?", fragte Serafin.
„Bitte!" Die Sphinx klang jetzt flehend.
Serafins Blick heftete sich auf Unke. „Welches Wort?"
„Das Gläserne Wort." Unke schaute zu Boden, an Lalapeja vorbei, als sähe sie irgendetwas vor sich im Schnee. Aber da war nur ihr eigener Schatten, und sie starrte darauf, als bäte sie ihn um Rat.
„Merle und Junipa müssen zu Burbridge", sagte Lalapeja. „Junipa besitzt den Blick, sie ist eine Führerin. Aber um die Tore zu öffnen, die Tore aus Spiegelglas, benötigt sie das Gläserne Wort." Die Sphinx hielt die abgestorbene Hand mit der gesunden Linken fest an ihren Oberkörper gepresst. Serafin hatte selbst noch nie Erfrierungen gehabt, aber er hatte gehört, dass sie genauso schmerzhaft waren wie Verbrennungen. Es war erstaunlich, dass Lalapeja nicht einfach zusammenbrach.
„Ich kenne das Wort nicht", sagte Unke zögerlich.
„Du nicht. Aber er."
Serafin starrte die beiden Frauen aus großen Augen an. „Er?" Und dann begriff er. „Arcimboldo?"
Lalapeja gab keine Antwort, aber Unke nickte langsam.
„Merle hat ein Recht auf die Wahrheit. Ich habe nicht genug Kraft ... ihr al es zu erzählen. Nicht hier."
Lalapeja sah auf ihre reglose, wächserne Rechte hinab. „Aber das Wort ... das könnte ich ihr mitteilen."
Ihr Blick wurde beschwörend. „Jetzt gleich, Unke!"
Unke zögerte noch einen Moment länger, und Serafin, der sich in seiner Unwissenheit schrecklich hilflos fühlte, hätte sie am liebsten an den Schultern gepackt und geschüttelt: Nun mach schon! Tu etwas! Hilf ihr!
Unke atmete tief durch, dann nickte sie. In Windeseile löste sie ihren Rucksack und zog die Spiegelmaske hervor: ein perfektes Abbild von Arcimboldos Gesichtszügen aus silbernem Spiegelglas.
Unke hatte sie nach dem Tod des Spiegelmachers angefertigt, und Serafin hatte den düsteren Verdacht, dass dies Arcimboldos echtes Gesicht war, vom Leichnam abgenommen und durch einen geheimnisvollen Zauber in Glas verwandelt.
Unke reichte die Maske Lalapeja.
„Wird er mit mir sprechen?", fragte die Sphinx zweifelnd.
„Mit jedem, der sie aufsetzt."
Serafin blickte von einer zur anderen. Er wagte nicht, störende Fragen zu stellen.
Lalapeja betrachtete ein paar Herzschläge lang die faltigen Züge des Spiegelmeisters, drehte die Maske dann um und musterte die Innenseite. In ihren Augen blitzte für einen Moment Unsicherheit auf, dann presste sie sich das Glas mit der Linken vors Gesicht. Die Maske blieb haften, auch als sie die Hand wieder wegzog. Die Innenseite schien sich Lalapejas schmalen Zügen auf wundersame Weise anzupassen; das Glas legte sich über ihr Gesicht, ohne an den Seiten überzustehen.
Serafin sah atemlos zu und erwartete beinahe, dass Arcimboldos Stimme aus ihr sprechen würde.
Er spürte Widerwillen bei dieser Vorstellung, es erschien ihm würdelos, wie der abgegriffene Trick eines Bauchredners.
Es verging eine Minute, in der keiner von ihnen sich rührte. Sogar die Zurückgebliebenen im Palmenhain waren verstummt,
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