Die Merowinger - Chlodwigs Vermächtnis
sich, sobald er den Ort verließ, wo er geschützt war. Dennoch ging von dem dunklen Trupp, der langsam im Schritttempo seiner alten Mähren herankam, etwas Bedrohliches aus.
Scylla wusste nicht, dass Chundo das Gut verlassen hatte. Am Abend hatte er sich noch zu ihrer Begrüßung eingefunden und sich nach der Gesundheit der Königin und der beiden Heiligen erkundigt. Nach einer gemeinsamen Abendandacht hatte er sich in seine Hütte neben der Gutskirche zurückgezogen. In der Frühe war sie dann so geschäftig, dass sie sich nicht mehr um ihn kümmerte. Sie dachte auch nicht, dass noch eine Gefahr von ihm ausgehen könnte.
Von Jahr zu Jahr war er stiller und unauffälliger geworden. Remigius hatte ihn bald nach seinem Eintreffen in Pinetum zum Priester geweiht, und er widmete sich gewissenhaft seinen geistlichen Pflichten. Weil er sich um die Armen, die Witwen und Waisen kümmerte, gelangte er sogar zu einer gewissen Beliebtheit. Um die Frauen des Gutes und ihre Gäste kümmerte er sich erstaunlich wenig, und nur von Zeit zu Zeit verhängte er für das »sündhafte Treiben« mäßige Bußen. Der Geist frommer Unduldsamkeit und wilder Bekehrungssucht schien von ihm gewichen zu sein.
Er war gealtert. Wie ein gelber Schnabel ragte die Hakennase aus seinem geschrumpften Gesicht unter der schwarzen Kapuze. Der weite Mantel umschlotterte seine spindeldürre Gestalt.
Er stieg mühsam vom Pferd und hinkte auf die Griechin zu, die bei den Wagen stand.
»Der Herr sei mit dir«, sagte er knarrend. »Du willst dich, wie es scheint, auf eine Reise begeben.«
»Die Absicht habe ich«, erwiderte Scylla schroff. Sie deutete auf die Mönche, die ebenfalls absaßen. »Bringst du uns da schon wieder einen Haufen Schmarotzer?«
»Ich rate dir«, sagte Chundo, ohne auf ihre Frage einzugehen, »das Gepäck wieder abladen zu lassen. Du kannst nicht fort.«
»Wie?«, fragte sie halb empört, halb belustigt. »Ich sollte nicht fortkönnen? Und warum nicht?«
»Es ist Gottes Wille. Jemand erwartet dich. Es handelt sich um eine Begegnung, der du nicht ausweichen kannst. Eine Flucht wäre sinnlos.«
»Gottes Wille? Eine Begegnung? Flucht? Was soll das verworrene Gerede? Wer erwartet mich, und wer hindert mich zu reisen?«
Chundo berührte sie am Arm, den sie heftig zurückzog. Nun bat er sie mit einer Kopfbewegung, das Gespräch außer Hörweite der anderen fortzusetzen.
Sie traten ein paar Schritte beiseite.
»Baddo ist hier«, sagte Chundo.
Scylla hatte einen Augenblick lang die Empfindung, als sinke sie in ein Eisloch.
»Baddo?«, stammelte sie. »Er ist hier? Und wo?«
»Sehr nahe.«
»Nahe?«
»Ja.«
»Was will er von mir?«
»Das wirst du wohl wissen. Gott hat seine Schritte hierhergelenkt, nachdem ihn der Teufel lange in die Irre geführt hatte.«
»Ich hielt ihn für tot!«
»Daran fehlte nicht viel. Er wurde mit Hilfe von Ursios Spähern in Genf erkannt und festgenommen. König Gundobad traf sich mit König Chlodwig und fragte, was mit ihm geschehen solle. König Chlodwig verlangte seine Hinrichtung. Die wurde zwar zugesagt, aber die Burgunder schickten ihn nur auf den Sklavenmarkt. So kam er erneut dorthin und – als er verkauft war – nach Sizilien, in die Steinbrüche. Nach Jahren gelang ihm auch von dort die Flucht, und nun ist er hier.«
»Du hast ihn hergeführt!«
»Das nicht. Er fand selber den Weg. Du hast viele Bekannte hier, die auch seine sind. Seit kurzer Zeit ist er in dieser Gegend, lebt in den Wäldern von Raub. Vor ein paar Tagen gab er sich mir zu erkennen.«
»Und was sagte er dir?«
»Er wollte wissen, wo du dich aufhieltest. Weil er dich hier nicht finden konnte. Ich antwortete ihm der Wahrheit gemäß, du seiest mit dem König in Paris. Da sagte er mir, nach deiner Rückkehr, die er ausspähen werde, kämest du hier nicht mehr heraus. Ich glaubte ihm das. Gottes Wille lenkt ihn. Wenn unsere Sünden zu groß sind, müssen wir schon auf Erden büßen.«
»Du verlogener Schurke! Du bist heute Nacht zu ihm gegangen und hast ihm gesagt …«
»Nein! Ich weiß wirklich nur, dass er in der Nähe ist. Vielleicht dort drüben im Wald, vielleicht sieht er uns jetzt. Ich war im Kloster und habe die Mönche geholt.«
»Wozu? Doch nicht etwa, um mich zu schützen?«
»Nein. Um das Gut der Kirche zu retten. Es könnten sich unreine Hände danach ausstrecken.«
»Ah, so bin ich für dich schon tot!«
»Du wirst deine gerechte Strafe erhalten. Von deinem in Sünde zusammengerafften Geld aber
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