DIE MEROWINGER: Letzte Säule des Imperiums
und Seuchen. Es wurde eng in Chlodwigs winzigem Reich.
In der Festung Tournai und in den Weilern ringsum lebten doppelt und dreimal so viele Menschen, als man aus eigener Kraft ernähren konnte. Die meisten Männer hatten keine Beschäftigung. Die Flächen für den Getreideanbau, um den sich vor allem die Frauen kümmerten, waren schmal und ausgelaugt. Auch die eigenen Viehbestände waren eher bescheiden.
So blieb nichts anderes übrig, als sich in guter germanischer Tradition das Nötige zum Überleben von dorther zu holen, wo man es fand: bei reichen Nachbarn. Sechs bis acht Beutezüge im Jahr genügten Chlodwig, selbst wenn die meisten nicht halb so ertragreich wie dieser waren.
Auch sein Vater Childerich hatte sich schließlich nur noch auf diese Methode verlassen. Als Föderaten des Imperiums mit der Pflicht zu militärischem Beistand hatten die Franken von Tournai zwar nach wie vor Anspruch auf Hilfsgelder, aber die flossen schon zu Childerichs Zeiten nur spärlich und unregelmäßig.
Chlodwig wusste, dass man ihn und seine Vettern, die anderen kleinen Könige im Nordosten Galliens, am Hof des Patricius in Soissons nur verächtlich als Raubgesindel bezeichnete. Doch das durfte ihn nicht kümmern. Er hatte ja keine andere Wahl.
Trotzdem beherrschte ihn ein seltsames Unbehagen. Auch nachdem er den Ärger über die Verluste hinuntergekämpft und den Gewinn des Beutezugs dagegengehalten hatte, stellte sich keine Siegesstimmung ein.
Als die Bauwerke der Domäne in Brand gesetzt und die Gefangenen heraufgetrieben waren, hatten ihn einige seiner schon wieder betrunkenen Krieger in die Höhe stemmen und unter Gesang auf ihren Schultern umhertragen wollen. Er hatte sich heftig dagegen gesträubt, denn es war ihm zuwider gewesen, sich eines solchen Sieges wegen bejubeln zu lassen. Einen der Aufdringlichsten hatte er sogar mit der Faust niedergeschlagen.
Nach der Rückkehr in die Waldburg wollte er diesmal eine Siegesfeier vermeiden, sogar auf die Gefahr hin, viele aus der Gefolgschaft gegen sich aufzubringen.
Er nahm sich nicht einmal die besten Beutestücke. Manche nannten ihn schon den »traurigen Wolf« und witzelten über seine Anspruchslosigkeit. Doch er wusste, dass es eher das Gegenteil war, was ihm so sehr zu schaffen machte.
Der Rückmarsch des schwerfälligen Trecks dauerte länger als vorgesehen. Erst gegen Abend des vierten Tages wurde die Waldburg erreicht.
Die Stimmung des Königs hob sich nicht, als er sah, wer sich zu seinem Empfang bereithielt.
Kapitel 6
Bischof Remigius und der Diakon Chundo verbrachten nach dem fehlgeschlagenen Bekehrungsversuch bei der Mutter des Königs die Nacht unter denkbar unbequemen Umständen in einem stockfinsteren Kellergewölbe.
Man hatte sie durch eine Luke hinabgestoßen. Krachend war eine Bogentor über ihnen zugefallen. Zum Glück waren sie nicht sehr tief hinuntergestürzt und in einer Wassergrube gelandet. Sie krochen heraus und fanden im Dunkeln eine Pritsche mit stinkendem Stroh, auf der sie sich niederließen.
Ihre Rufe und Schreie blieben unbeantwortet. Ihre Gebete fanden keine Erhörung.
Auf der Suche nach einem anderen Ausgang tasteten sie sich an den Wänden entlang und stießen auf einen Haufen offenbar menschlicher Knochen. Da machten sie sich darauf gefasst, an diesem schaurigen Ort als Märtyrer zu enden. Eine solche Aussicht bewirkte bei ihnen allerdings nicht die erhabene Ruhe und fröhliche Zuversicht, wie sie die hagiographische Literatur den großen Duldern gern zuschreibt.
Sie fingen an, sich zu beschimpfen, und gaben einander gegenseitig die Schuld an ihrer Lage. Remigius warf dem Diakon seine unchristliche Goldgier vor. Chundo schrie dagegen, der Bischof trage vor Gott die Verantwortung für seinen Tod. Der habe ihn ja in diese heidnische Mörderburg geschleppt, der er sich sonst nicht einmal von weitem genähert hätte. Und höhnisch forderte er Remigius auf, nun einmal seine Heiligkeit zu beweisen. Wenn er sogar Tote erwecken könne, müsse es doch auch zur Errettung aus einem Kerkerloch reichen.
Am Ende übermannte die beiden ein Erschöpfungsschlaf.
In der Frühe wurden sie von einem Lichtstrahl getroffen, der durch die geöffnete Luke fiel. Gleich darauf ließ man eine Leiter herab.
Oben empfing sie Bobolen, der halbherzig um Verzeihung für die strenge Behandlung bat, von der er allerdings nichts gewusst haben wollte. In Anbetracht des »bedauerlichen Zwischenfalls« legte er ihnen nahe, nicht in Tournai zu bleiben, sondern
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