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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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sondern als eine unersetzliche persönliche Huldigung; inzwischen tat sie es gern, und für mich war es ein riesiges Vergnügen, in ihrem kleinen Mund zu kommen.
     
     

Daniel25,3
    Nachdem ich ein paar Wochen gezögert hatte, nahm ich Kontakt mit Marie23 auf, indem ich ihr ganz einfach meine IP-Adresse hinterließ. Sie antwortete darauf mit folgender Nachricht:
    Ich habe Gott deutlich gesehen
    In seinem Nichtbestehen,
    Habe im Nichts der Frommen
    meine Chance wahrgenommen.
    34487, 2613, 42637, 5612. Unter der angegebenen Adresse war eine seidenweiche graue Oberfläche zu sehen, die im Rhythmus ferner Blechblasinstrumente in der Tiefe leicht bewegt wurde wie ein Samtvorhang, der im Wind hin und her weht. Die Komposition hatte eine besänftigende und zugleich etwas euphorische Wirkung, ich betrachtete sie eine Weile gedankenversunken. Noch ehe ich Zeit hatte, Marie23 zu antworten, richtete sie eine zweite Nachricht an mich:
    Nach dem endgültigen Verlassen der Leere
    Schwimmen wir in der Jungfrau der Meere.
    4311, 935, 9323, 835. Inmitten einer verwüsteten Landschaft mit halb zerstörten hohen grauen Wohnblocks schob eine riesige Planierraupe Schlamm vor sich her. Ich zoomte das riesige gelbe Fahrzeug mit abgerundeten Formen, das wie ein funkgesteuertes Spielzeug wirkte, etwas näher heran — in der Kabine schien niemand zu sitzen. Während sich die Raupe vorwärtsbewegte, wurden im schwärzlichen Schlamm menschliche Skelette sichtbar, die von dem Planierschild des Fahrzeugs fortgeschoben wurden; als ich mit dem Zoom noch näher heranging, konnte ich deutlich Schienbeine und Schädel erkennen.
    »Das ist der Anblick, den ich aus meinem Fenster habe …«, schrieb mir Marie23, wobei sie ohne Vorankündigung in den nicht codierenden Modus überging. Das überraschte mich etwas; sie gehörte also zu den wenigen Neo-Menschen, die in einer ehemaligen Stadtregion wohnten. Das war ein Thema, wie mir sogleich klar wurde, das Marie22 nie bei meinem Vorgänger angesprochen hatte; zumindest hatte er in seinem Kommentar nichts darüber festgehalten. »Ja, ich lebe in den Trümmern von New York…«, antwortete Marie23. »Mitten in dem Gebiet, das die Menschen früher Manhattan nannten …«, fügte sie wenig später hinzu.
    Das war natürlich völlig unwichtig, denn es war undenkbar, daß sich die Neo-Menschen aus ihren Wohngebieten hervorwagten; ich selbst jedenfalls freute mich, daß ich inmitten einer natürlichen Umgebung lebte, sagte ich zu ihr. New York sei nicht so unangenehm, erwiderte sie; seit der Großen Dürre sei es sehr windig, der Himmel sei sehr wechselhaft, sie wohne in einem hoch gelegenen Stockwerk und verbringe viel Zeit damit, die vorüberziehenden Wolken zu beobachten. Ein paar Fabriken der chemischen Industrie, die angesichts der Entfernung vermutlich in New Jersey angesiedelt seien, funktionierten noch immer, und bei Sonnenuntergang nehme der Himmel durch die Luftverschmutzung eine seltsame rosa-grüne Färbung an; auch den Ozean gebe es noch immer, in weiter Ferne im Osten, es sei denn es handele sich um eine optische Täuschung, aber bei schönem Wetter könne man manchmal eine leichte Spiegelung erkennen.
    Ich fragte sie, ob sie schon die Zeit gefunden habe, um den Lebensbericht von Marie1 zu Ende zu lesen. »O ja …«, erwiderte sie sofort. »Er ist sehr kurz, keine drei Seiten lang. Sie muß eine erstaunliche Begabung für die Zusammenfassung gehabt haben …«
    Auch das war originell, aber durchaus möglich. Im Unterschied dazu war Rebecca1 für ihren Lebensbericht berühmt, der über zweitausend Seiten umfaßte und nur einen Zeitraum von drei Stunden beschrieb. Auch in dieser Hinsicht gab es keine Vorschrift.
     
     

Daniel1,15
    Das Sexualleben des Mannes läßt sich in zwei Phasen einteilen: die erste, in der er zu früh ejakuliert, und die zweite, in der er keine Erektion mehr bekommt. Während der ersten Wochen meiner Beziehung mit Esther stellte ich fest, daß ich wieder in die erste Phase zurückgekehrt war — dabei hatte ich geglaubt, daß ich schon seit langem die zweite erreicht hätte. Manchmal, wenn ich neben ihr durch einen Park oder am Strand entlangging, war ich wie im Rausch, hatte den Eindruck, als sei ich ein junger Mann in ihrem Alter, dann ging ich schneller, holte tief Atem, nahm eine kerzengerade Haltung an und redete mit lauter Stimme. An anderen Tagen dagegen, wenn ich uns beide im Spiegel sah, überkam mich eine Welle des Abscheus, die mir den Atem verschlug, und dann

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