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Die Mission des Wanderchirurgen

Die Mission des Wanderchirurgen

Titel: Die Mission des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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krank?«
    »Oh, nein«, beeilte Vitus sich zu versichern. »Es ist nur so, dass der Winzling gern einmal eigene Wege geht.«
    »Und sich dabei ein wenig umsieht«, ergänzte der Magister.
    »Ein seltsamer kleiner Wicht. Ich hörte ihn ein paarmal etwas sagen, konnte es aber nicht verstehen.«
    »Das war Rotwelsch, Professor«, erklärte der Magister, »man muss sich ein wenig hineinhören, bevor man einzelne Wörter erfassen kann. Enano stammt aus den Landen östlich des Rheins, ›aus dem Askunesischen‹, wie er selber immer sagt.«
    Häklein legte den Kopf schief. »Aus dem Askunesischen? Hört, hört! Es ist ein Landstrich, der mit am stärksten von der Pestilenzia überzogen wurde. In vielen Wellen, über viele Jahrhunderte hinweg. Zeitweise waren ganze Städte und Dörfer entvölkert, lagen brach wie ein abgeholzter Wald. So jedenfalls steht es in den alten Chroniken. Die wenigen Überlebenden, so ist ebenfalls nachzulesen, wurden zusätzlich von Gott bestraft, indem er ihnen oftmals keine gesunden Kinder schenkte, vielmehr nur kranke, verkrüppelte und verzwergte. Vielleicht ist Enano ein Nachkomme solcher Überlebender. Das zu erfahren wäre wissenschaftlich von höchstem Interesse.«
    Vitus holte sein Buch mit den Pest-Aufzeichnungen hervor. »Mag sein, Professor, dass die Seuche sich schädlich auf die Zeugung auswirkt, und eine Untersuchung zu dieser These wäre zweifellos wichtig, doch ebenso wichtig scheinen mir die Ursache und die Bekämpfung der Pest zu sein. In diesem Buch habe ich alles niedergeschrieben, was ich bislang über die Seuche erfahren konnte. Und zwar nach drei Rubriken: Erstens:
Causae,
dazu zähle ich Miasmen, Ratten, Fäulnis; zweitens:
Prophylactica,
etwa Ausräucherung, Schutzkleidung, Flucht; drittens:
Therapeutica,
wie Ingwer, Abführungen und den Bubonenschnitt. Ich habe alles in eine strenge Ordnung gebracht, weil ich mir davon ein leichteres Erfassen möglicher Zusammenhänge erhoffe.«
    Häklein spitzte beeindruckt die Lippen. »Das scheint mir ein vernünftiger Ansatz zu sein, Cirurgicus. Noch nie hörte ich von einer derartigen Vorgehensweise. Habt Ihr schon irgendwelche Schlüsse ziehen können?«
    »Leider nein, Professor. Ich tappe wie alle Forscher völlig im Dunkeln. Das Einzige, was mir auffiel, ist, dass die Rubrik
Therapeutica
die wenigsten Stichwörter enthält. Sie spiegelt die ganze Hilflosigkeit wider, in der wir Ärzte uns befinden. Ähnlich kurz ist auch das, was Ihr unter
Causae
lest, und entsprechend viel steht bei
Prophylactica
.« Vitus schob das Buch über den Tisch, damit der Professor Einsicht nehmen konnte.
    Häklein ließ sich Zeit. Er blätterte hin und her und schließlich sagte er: »Eine stattliche Aufreihung all jener Dinge, mein lieber Cirurgicus, die indirekt oder direkt mit der Geißel Pest zu tun haben – oder haben könnten. Aus meiner Sicht fehlen noch ein paar Stichwörter, womit ich allerdings nicht sagen will, dass diese der Weisheit letzter Schluss wären. Nur der guten Ordnung halber will ich sie nennen.«
    »Und ich will sie gerne niederschreiben«, sagte Vitus.
    Der Magister sprang auf, um Feder, Tinte und Löschsand zu holen, und als er alles auf den Tisch gestellt hatte, sagte er grinsend: »So bin auch ich zu etwas nütze.«
    Padua, 16. Tag des Monats September, A. D. 1579
    Der erste anregende Gedankenaustausch mit Professor Girolamo liegt hinter mir. In Anwesenheit des Magisters diskutierten wir über Ursachen, Vorkehrungen und Heilmöglichkeiten der Pestis. Girolamo, der übrigens von aller Welt »Häklein« genannt wird, ergänzte meine Ordnungsliste um einige Punkte, die ich hier noch einmal festhalten will …
    Unter Causae:
    Himmels-Konjunktionen. Damit meinte er Konstellationen, bei denen Planeten auf einer Linie stehen, etwa bei Neumond. Als Beispiel führte er die These des Guy de Chauliac an, nach der die »Große Conjunction« der drei oberen Planeten Saturn, Jupiter und Mars, welche am 24. März 1345 erfolgte, die Ursache der großen europäischen Seuche gewesen sei.
    Pesterregende Aura aus dem Erdinneren – so entstanden bei einem Beben anno 1348 in Friaul.
    Unter Prophylactica:
    Meiden von ebenerdigen Räumen, um dem Pesthauch aus Erdspalten zu entgehen.
    Vermeiden von körperlichen Anstrengungen, insbesondere der Fleischeslust, da sonst vermehrt miasmenreiche Luft eingeatmet werden könnte.
    Vermeiden der fünf »Fs«: fatigua, fames, fructus, femina, flatus … also Ermüdung, Hunger, Früchte, Frauen und

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