Die Mission des Wanderchirurgen
nahm er selbst ein Skalpell zur Hand, eines mit langem Griff, um die Hebelwirkung zu verstärken, und sagte: »Es geht los, meine lieben Studiosi! Cirurgicus, nehmt schon einmal die Häklein. Es ist immer wichtig, die Häklein rechtzeitig zur Hand zu haben.«
Das erneute Gekicher überhörend, überzeugte er sich von der sauberen Vorbereitung des Magisters und begann dann mit Vitus’ Hilfe, die untere Rückenpartie freizupräparieren. Im Verlauf seiner schnellen und geschickten Vorgehensweise stellte er, wie es seine Art war, immer wieder Fragen, darunter auch solche, die mit seinem Tun nicht unmittelbar zusammenhingen. So schaute er einmal auf und wollte wissen: »Was geschah anno 1543?«
»1543 erschien in Basel der Foliant
De humani corporis fabrica
, kurz
Fabrica
genannt«, antwortete Carlo für seine Kommilitonen.
»
Recte.
Und was ist die
Fabrica?
«
»Ein Kompendium anatomischer Zeichnungen, mit deren Hilfe wir Gestalt und Funktion des menschlichen Körpers verstehen, Herr Professor.«
»Und von wem ist die
Fabrica?
«
»Von Andreas Vesalius.«
»
Recte.
Er ist als Arzt und Autor für den Inhalt verantwortlich. Aber von wem sind die Illustrationen? Es sind alles in allem mehr als zweihundertfünfzig, verteilt auf sieben Bände!«
»Von Tizian, Herr Professor.«
»Ja und nein, mein Sohn! Es ist schon richtig, dass Tiziano Vecellio immer wieder als Urheber der Zeichnungen genannt wird. In Wahrheit aber dürfte sie sein Schüler Stephan von Kalkar angefertigt haben. So viel dazu. Zurück zu Andreas Vesalius: Wer war er?«
Ein anderer Studiosus antwortete: »Ein berühmter Arzt und Anatom. Eigentlich hieß er Andries van Wesel, denn seine Familie stammte aus Wesel in Deutschland. Er wurde in Brüssel geboren, studierte in Löwen und Paris und war der Leibarzt von Karl V. und Philipp II .«
»
Recte«,
sagte Häklein zufrieden, während er sich wieder dem Leichnam widmete. »Und ganz nebenbei dürfte er auch der berühmteste Wissenschaftler sein, der jemals an unserer schönen Universität gelehrt hat. Wir verdanken ihm viele bedeutsame Erkenntnisse. Herr Magister, seid so gut, und holt mir das kleine Skelett heran, das dort im Hintergrund steht. Ja, genau das. Stellt es hier neben das freipräparierte Becken des Toten. So ist es recht. Danke.«
Häklein richtete sich zu voller Größe auf, legte den Kopf schief und bat seine Studenten um erhöhte Aufmerksamkeit. Er deutete er auf das Skelett. »Nun, Herrschaften, da ihr schon einiges bei mir gelernt habt, wisst ihr natürlich, dass dieses Knochengerüst kein menschliches ist, sondern einem Affen zugeordnet werden muss. Scheinbar stimmt es mit dem unseren völlig überein, wenn man einmal davon absieht, dass es kleiner ist und besonders der Schädel und die Füße unterschiedlich geformt sind. Doch was die Anzahl der Knochen angeht, so gibt es keinen Unterschied. Ach, da fällt mir ein: Wie viele Knochen hat der Mensch?«
»Zweihundertundsechs, Herr Professor.« Wieder war es Carlo, der antwortete.
Häklein blickte gütig drein. »Es scheint, dass meine Bemühungen, euch jungen Herren etwas beizubringen, nicht ganz erfolglos waren.«
Das Gelächter mit einer Handbewegung unterbindend, fragte er weiter: »Und wie viele Knochen hat die Hand? Und der Fuß? Und der Kopf?«
Als keine Antwort kam, zeigte er sich großzügig und antwortete selbst. »Die Hand siebenundzwanzig, der Fuß sechsundzwanzig, der Kopf dreiunddreißig. In den nächsten Lesungen erwarte ich, dass ihr mir jeden Einzelnen zeigen und benennen könnt. Doch zurück zum Affen. Ich sagte, sein Skelett weise im Vergleich zu dem unseren keinen Unterschied auf. Nun, meine lieben Studiosi, ist das wirklich so? Schaut euch beide Lendenbereiche einmal genau an.«
Häklein trat einen Schritt beiseite und wartete.
Vitus, der schon Muße gehabt hatte, einen Vergleich anzustellen, war der Unterschied bereits aufgefallen. Aber er schwieg, schließlich war er Prosektor und kein Schüler.
Es dauerte eine Weile, und Häklein begann schon mit den Füßen zu scharren, als Carlo endlich das Wort ergriff: »Herr Professor, wir glauben, beim Affen einen Lendenwirbelfortsatz entdeckt zu haben, der beim menschlichen Skelett fehlt.« Er deutete auf einen kleinen knöchernen Auswuchs.
»Da glaubt ihr richtig. Auch wenn es eine Ewigkeit gedauert hat, bis euch der Unterschied auffiel. Mit diesem Fortsatz hat es im Übrigen eine besondere Bewandtnis: Schon Galen … ach, wer war noch gleich Galen?«
»Ein
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