Die Mission des Wanderchirurgen
sie denn bereits wieder alles vergessen hätten, was er ihnen beigebracht habe.
Vitus beendete das Durcheinander, indem er zu einem mittelgroßen Skalpell griff und erklärte: »Es sind zwei tiefe Schnitte vonnöten. Ich setze sie leicht rund gegeneinander an, so dass sie oben und unten spitz aufeinander treffen. Die Geschwulst muss im Übrigen weitläufig herausgearbeitet werden, damit sämtlicher Eiter und Talg entfernt werden kann. Ebenso die Haare mit ihren Wurzeln, die in der Zyste sitzen und wahrscheinlich die Verursacher der Geschwulst sind.« Er setzte das Skalpell an und vollführte unter den interessierten Blicken aller Anwesenden die Schnitte. Der Magister und der Professor assistierten ihm, hielten mit Haken die Wunde auseinander, während Vitus zu einem scharfen Löffel griff und die Operationsstelle sorgfältig auskratzte.
Anschließend griff er zu Nadel und Faden und fragte: »Vorausgesetzt, der Mann lebte: Könnte ich dann die Wunde einfach zunähen, oder müsste ich noch auf irgendetwas anderes achten?«
Die Studenten schwiegen und dachten angestrengt nach. Schließlich traute sich Carlo und antwortete: »So, wie es aussieht, Cirurgicus, könntet Ihr die Wunde einfach zunähen. Das Gewebe würde sich dann von unten nachbilden, bis die Operationsstelle gänzlich zugewachsen ist.«
»Im Prinzip richtig«, nickte Vitus. »Aber ich hätte nicht so gefragt, wenn es nicht doch etwas gäbe, was vorher zu beachten ist: Ihr müsst dafür sorgen, dass die Eingriffsstelle kräftig blutet. Die Erfahrung zeigt, dass solche Wunden später besser heilen.«
»Jawohl, Cirurgicus.«
Häklein blickte gütig und sparte nicht mit Lob: »Eine sehr gute Vorführung! Wäre der Mann noch am Leben, hätte er jetzt eine große Sorge weniger.«
»Ja«, pflichtete der Magister bei, »und so hat er gar keine mehr.«
Padua, 9. Tag des Monats Oktober, A. D. 1579
Wir schreiben heute Freitag. Morgen werden wieder sechs arbeitsreiche Tage in dieser Woche hinter uns liegen. Wir sehen den Professor jetzt beinahe täglich: Wenn nicht im Studierzimmer, dann im Hörsaal, wo der Magister und ich ihm bei der Sektion von Toten und bei der Demonstration von Leichenorganen assistieren. Einige Male konnte ich auch selbst zum Skalpell greifen und den Verlauf von Operationen demonstrieren. Diese Tätigkeit war mir von Herzen recht, sorgte sie doch dafür, dass meine Hände nicht gänzlich aus der Übung kommen.
Durch die enge Zusammenarbeit ist so etwas wie freundschaftliche Verbundenheit zwischen dem Professor und uns entstanden. Bedauerlich nur, dass Enano sich so wenig zur Zergliederungskunst hingezogen fühlt. Kann er kein Blut sehen? Vielleicht meidet er es – so wie es ihn meidet? Das würde immerhin erklären, warum er seinerzeit, als ich dem Matrosen Dunc auf der Falcon den Schädel trepanierte, so unerwartet als Blutstiller auftreten konnte.
Auf jeden Fall zieht er es vor, den Radbauer Romano Tassini zu besuchen. Der Magister meinte heute schon scherzhaft, der Alte habe mittlerweile anderthalb Lehrlinge.
Unsere Forschungsgespräche mit »Häklein« kommen voran, wenn auch langsamer, als ich erhofft hatte. Die Schlange Pest entzieht sich immer wieder unserem Zugriff. Wie wir es uns vorgenommen hatten, haben wir zunächst alle Gedanken, Erklärungen und Verordnungen, die offenkundig keinen Sinn machen, ausgeschlossen. Sie sind auf einer separaten Liste gesondert festgehalten. Hier nur die wichtigsten:
Das Verbot von Speisen jeglicher Art.
Das Verbot, geschlachtete Schweine mit Luft zu füllen.
Die fünf »Fs«.
Vermeiden von körperlichen Anstrengungen.
Tragen von Wacholderbeeren im Mund.
Tragen von Amuletten und Palliativen.
Einnahme von Theriak und Mithridat.
Haarstrangziehen.
Tabak, Ingwer, Pfeffer, Zwiebeln, Eisenhut, Marmelade, Rosenblätter.
Einreibungen mit schwarzer Sepia.
Abführmittel.
Schröpfen.
Himmels-Konjunktionen.
Die Diskussion entzündete sich noch einmal am Ingwer, doch waren wir uns schließlich einig, dass er nicht mehr als ein Schweiß bildendes Mittel ist, eines von vielen anderen, die keinesfalls mit der Pest-Therapie in Verbindung gebracht werden. Gleiches widerfuhr uns mit dem Erklärungsversuch der Himmels-Konjunktionen für das Auftreten der Seuche. Hier einigten wir uns darauf, dass bestimmte Konstellationen immer wieder am Firmament auftauchen und demzufolge die Pestis dauerhaft ihr Unwesen treiben müsse. Da sie das aber nicht tut, hält diese Erklärung der Logik nicht stand.
Zu
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