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Die Mission des Wanderchirurgen

Die Mission des Wanderchirurgen

Titel: Die Mission des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Pest!«
    Vitus schwieg. Er wartete darauf, dass der Ausbruch sich legte, doch er hoffte vergebens. Der Zugmeister war noch lange nicht fertig und giftete weiter: »Ja, Ihr hört richtig! Die Schlange Pest hat sich wieder erhoben. Sie züngelt und sucht und findet ihre Opfer. Tausend Tote hat es schon gegeben! Zehnmal tausend Tote. Allerorten werden Bittgottesdienste abgehalten. Die Lombardei ist verseucht, wie ich es vor Monaten schon geträumt!«
    Vitus runzelte die Brauen. »Was Ihr da sagt, scheint mir aus der Luft gegriffen. Wenn die Pestis wirklich irgendwo aufgeflackert wäre, hätten wir bestimmt davon gehört. Und nun lasst uns vorb …«
    Weiter kam er nicht, denn Arnulf baute sich vor ihm auf, hochrot und zornbebend. »Ihr wagt es, mein Wort anzuzweifeln? Was bildet Ihr Euch ein? Hoffart, Geilheit, Gottlosigkeit sehe ich in Euren Augen, aber seid gewiss: Auch für Euch werden wir uns geißeln, auch wenn Ihr es nicht verdient, denn der Herr vergisst seine Sünder nicht, und Arnulf von Hohe tut es auch nicht.«
    Vitus trat einen Schritt zurück und zog die beiden Freunde mit sich. Das Benehmen Arnulfs verlangte zwar nach einer deutlichen Entgegnung, vielleicht sogar nach einer Bestrafung, doch das führte erfahrungsgemäß zu nichts. Außerdem war nicht klar, ob die frommen Geißler angesichts eines geohrfeigten Zugmeisters noch so fromm bleiben würden.
    »Lasst uns passieren«, sagte er ruhig. »Nur weil ich Euren Worten keinen Glauben schenke, braucht Ihr Euch nicht gleich zu vergessen.«
    »Ich vergesse mich nicht! Ich habe Recht! Schon anno sechsundsiebzig habe ich die Pestilenz in Venedig vorausgesagt. Es war die schlimmste aller Seuchen, die jemals die Stadt heimsuchten. Über fünfzigtausend Menschen starben, und wenn ich nicht gewesen wäre, und mit mir meine treuen Geißler, dann wären es doppelt so viele gewesen! Ich habe Recht! Auch das große Feuer, das letztes Jahr in den Prunkräumen des Dogenpalastes ausbrach, habe ich vorhergesehen. Wandbildnisse, Galerien, Gemälde von Tizian, Carpaccio und Bellini wurden ein Raub der Flammen. Ich habe Recht! Ist mir die Jungfrau Maria nicht leibhaftig erschienen wie anno sechsundsiebzig dem Kapuziermönch Jakobus zu Nursia? Hat sie ihre Anwesenheit nicht vor meinen Geißlerbrüdern als triumphierende Königin des Himmels bezeugt? Ich habe Recht! Und ich werde immer Recht haben. Ebenso wie ich mich immer mit den Meinen züchtigen werde für die Ungläubigen und Abtrünnigen, auf dass sie von Gott dem Allmächtigen, dem Gnadenreichen, dem Barmherzigen errettet werden. Ja, sogar für die Juden, die christliche Kinder töten, um mit ihrem Blute zu zaubern und die Pest zu besiegen, sogar für sie will ich mich geißeln. Ich habe Recht, ich …«
    »Ich habe keine Zeit mehr«, unterbrach ihn Vitus. Er stieß den geifernden Mann zur Seite und schaffte sich freie Bahn. »Kommt, Freunde, wir müssen weiter.«
    »
Adios, ciao
, un schäl den Mondschein!«, krähte der Zwerg und schickte sich an, die kleine Gruppe wieder zu führen.
     
    Auf ihrem Weg nach Piacenza, der altehrwürdigen, von den Römern gegründeten Stadt, die mit Parma einen selbstständigen Staat bildete, begegneten sie vielen Menschen, doch niemand hatte etwas von einer sich ausbreitenden Seuche gehört oder gesehen. Nichts schien das Menetekel des Arnulf von Hohe zu bestätigen.
    Sie gingen weiter und weiter, und allmählich wurden die Tage kürzer, morgendliche Nebel hüllten die Landschaft wie weiche Watte ein, und erst gegen Mittag zerriss die Sonne die Schleier, um sie dann später vollends zu heben.
    An einem dieser Tage, als die Freunde sich vor Einbruch der Dunkelheit anschickten, eines der beschaulichen Dörfer anzusteuern, trafen sie auf eine seltsame Gruppe unterschiedlichster Gestalten. Den Mittelpunkt bildete ein stattlicher, vollbärtiger Mann, dem die Lebensfreude nur so aus den Augen sprang. Er hatte das rote Gesicht eines dem Wein Ergebenen und die Figur eines Fasses. Ein leuchtend grünes Barett saß unternehmungslustig auf seinem Kopf. Er hatte eine Muskete quer über dem Rücken hängen, zwei Dolche im Gürtel und ein Amulett von Wolfszähnen an der Halskette. Dort hing auch ein Gebilde, das sich auf den zweiten Blick als eine Art Horntute entpuppte.
    Der Mann mochte um die vierzig sein, hatte Arme wie Balken und Beine wie Säulen, und ein erdfarbener Überwurf, der an die Schauben von Giancarlo Montella erinnerte, fiel an ihm in langen Falten herab.
    Und so wie der Wein- und

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