Die Mission des Wanderchirurgen
Sieh her, Teufelsgeschmeiß, wie Arnulf von Hohe sich gegeißelt hat. Du sollst es sehen, alles sollen es sehen. Arnulf will es!«
Völlig von Sinnen riss sich der Zugmeister die Kutte vom Leibe und stand jählings so da, wie der von ihm vielzitierte Gott ihn erschaffen hatte. Nackt und bloß, die Haut ein blutiger Teppich aus Wunden, Schwären, Quetschungen. Auf seltsame Art hilflos und anrührend. Doch der Irrwitz steckte tief in ihm, er griff sich eine Geißel und begann, sich erbarmungslos zu züchtigen. Die Schläge klatschten nur so auf seine geschundene Haut, er fing an zu tanzen, jauchzte auf, schlug sich weiter, stärker und stärker, und stimmte schließlich das Lied der Flagellanten an:
»Oh, Herr, Du strenger Christengott,
Du Schöpfer aller Welten.
Du machtvoller Herr Zebaoth,
Dir wollen wir’s vergelten,
was Du getan in Stadt und Land
für Deine armen Kinder.
Wir danken Dir mit Herz und Hand,
denn wir sind nichts als Sünder …«
Vitus hielt es nicht länger aus. Er machte das Kreuzzeichen und zog seine Gefährten mit sich fort. Dem Zugmeister war nicht zu helfen, er war von allen guten Geistern verlassen. So marschierten sie an diesem ereignisreichen Tag weiter gen Westen in Richtung Piacenza. Doch das Gehen wurde ihnen schwer, zu abgelenkt waren sie, wenn sie an Arnulf und seinen Veitstanz dachten, zu lebhaft standen ihnen die Bilder der sterbenden Geißler vor Augen.
Schließlich gebot Vitus Halt. Er hatte links des Wegs eine grün bewachsene Ebene entdeckt, flaches Land, das nur von einigen Baumansammlungen unterbrochen wurde. Gras und Bäume wirkten so einladend, als sei die Pestis nie da gewesen. Vitus blickte sich um und sprach: »Wir sollten an dieser Stelle unser Lager aufschlagen. Die Gegend hat Liebreiz. Bis auf das alte Bauernhaus, das ihr da hinten seht, scheint keine Menschenseele hier zu wohnen.«
Der Magister blinzelte. »Ich sehe kein Bauernhaus, aber ohne meine Berylle ist das auch kein Wunder. Das Einzige, was ich wahrnehme, ist, dass es hier keine Wälder gibt, so dass sich mir die Frage aufdrängt, womit wir ein Feuer machen können.«
Vitus hielt die Hand über die Augen, um besser sehen zu können. »Wenn mich nicht alles täuscht, hat der Bauer einen guten Vorrat Scheitholz an der Hauswand aufgeschichtet. Ich werde zu ihm gehen und ihn bitten, uns ein wenig davon zu überlassen.«
»Tu das. Aber ich komme mit. Die anderen mögen derweil für ein heimeliges Lager sorgen. Nach all den Schrecknissen dieses Tages haben wir es uns verdient.«
Gemeinsam schritten sie zu dem Haus und passierten dabei einen Brunnen, dessen Ziehvorrichtung viel benutzt aussah – ein Zeichen dafür, dass er Wasser führte. Sie gingen weiter bis zur Haustür und klopften. Als sich nichts rührte, traten sie ein. Übler Geruch schlug ihnen entgegen. Vitus rümpfte die Nase und rief: »Ist da jemand?«
Niemand antwortete.
Sie begannen sich umzusehen. Das Haus war nicht besonders groß und machte den Eindruck, als sei es hastig verlassen worden. Vitus rief abermals, und abermals bekam er keine Antwort. Sie schauten sich weiter um. Das Haus hatte nur wenige Räume, zwei unten und einen oben, den Dachboden. Eine Holzstiege führte hinauf. Sie kletterten hoch und gingen über die knarrenden Dielen. Der Geruch hatte sich verstärkt. Eine Bettstatt aus Stroh tauchte in einer Ecke auf. Sie war leer, doch neben ihr lagen viele gebrauchte Verbände. Sie waren die Ursache des Gestanks, denn sie waren voller Eiter. Der Magister wollte näher treten, doch Vitus hinderte ihn daran. »Lass das, du Unkraut. Du weißt nicht, welche Miasmen sich in dem Leinen verstecken.«
»Wahrscheinlich hast du wie immer Recht.« Der kleine Gelehrte hielt sich zurück. »Gott steh mir bei, aber das Bett sieht aus, als wäre darin jemand gestorben. Und ich möchte lieber nicht wissen, woran.«
»Ich auch nicht. Zumal ich gerade ein winziges Paar Äuglein habe vorbeihuschen sehen.« Vitus zog seinen Freund die Stiege hinunter. »Wenn du denkst, was ich denke, haben wir hier nichts mehr verloren. Also komm.«
Als sie das Haus durch die Hintertür verließen, sagte der kleine Gelehrte: »Puh, auf den Gestank da drinnen kann ich gut verzichten. Sieh mal, da hinten, das sieht aus wie Erdhügel.«
»Gräber sind es. Ich erkenne Kreuze darauf. Sieben Gräber insgesamt.«
Sie gingen zu den Hügeln und betrachteten aus mehreren Schritten Entfernung die schlichten Holzkreuze. Der Magister blinzelte und fragte: »Was steht
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