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Die Mission des Wanderchirurgen

Die Mission des Wanderchirurgen

Titel: Die Mission des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Geigenkörper ist also in vielerlei Hinsicht mit dem des Menschen vergleichbar.«
    »Ja, wieso?«
    Vitus ging nicht auf die Frage ein. »Wenn ein Mensch sich nun eine Zeit lang nicht bewegen kann, weil er, zum Beispiel, durch Krankheit ans Bett gefesselt ist, was passiert wohl, wenn er das erste Mal wieder aufsteht?«
    »Ich weiß nicht, Cirurgicus.«
    »Ich will es dir sagen: Dieser Mensch ist wackelig auf den Beinen. Man schiebt den Zustand gemeinhin der Krankheit zu, die den Körper ausgezehrt hat, aber das ist es nicht allein: Die schwachen Beine rühren auch vom Muskelschwund her. Wenn Muskeln nicht bewegt werden, verkümmern sie.«
    »Ja, natürlich. Aber worauf willst du hinaus?«
    »Nun, mit deiner Geige ist es genauso. Wenn sie nicht bewegt – also gespielt – wird, verkümmert ihr Körper.«
    »Meinst du wirklich?«
    »Ich bin sicher. Der schöne Geigenkörper würde Substanz verlieren und schwächer werden. Im Übrigen: Heißt es nicht immer, ein Instrument müsse gespielt werden, damit Leben hineinkommt?«
    »Ja, natürlich, das stimmt.« Guido war sehr nachdenklich geworden. »Aber der Körper hat den hässlichen Fleck durch die Taubenkacke.«
    »Der Fleck ist doch rein oberflächlich, nichts anderes, als die Schramme auf deiner Stirn, die du bei der Rauferei davongetragen hast.«
    »Tja, wenn du meinst.«
    »Als Arzt würde ich deiner Geige täglich dreimal Bewegung verordnen.« Vitus stand auf und ging zum Zeltausgang.
    »Lass dir die Sache einmal durch den Kopf gehen.«
     
    Am selben Abend, das Stundenglas zeigte, dass es bald auf acht Uhr ging, spielte Guido auf seiner Geige. Zuerst zaghaft und mit einigen Unterbrechungen, dann immer sicherer und lauter. Schließlich durchzog eine fröhliche Melodie die Schwärze der Nacht, kletterte munter die Tonleiter hinauf und hinab und schenkte jedermann einen harmonischen Hörgenuss.
    Wenig später kam der Magister von der Wache zurück, und Fabio machte sich auf den Weg. Doch bevor er ging, schärfte er Vitus und dem Magister ein: »Dass ihr mir ja nicht dem Faulenzer Guido etwas zu essen gebt!«
    »Doch, das werden wir«, sagte Vitus.
    »Nein! No!
Dio mio!
Wer nichts tut, kriegt auch nichts zu beißen!«
    »Aber Guido hat eben die ganze Zeit sehr schön auf seiner Geige gespielt.«
    »Ich habe es gehört. Na, und?«
    »Hat es dir gefallen?«
    »Ja, schon. Warum?«
    »Es hat dir gefallen und deine Gedanken etwas aufgehellt. Ebenso wie den Magister, der seine Runden zog, wie Enano, der die Kleine wickelte, und wie meine Wenigkeit, die das Kochfeuer schürte und das Essen aufwärmte. Damit hat Guido eine Leistung für die Allgemeinheit erbracht und darf folglich auch essen.«
    Fabio grunzte. Aber das war auch schon alles, was er noch entgegenzuhalten hatte. Er schulterte die Muskete und stapfte los.
     
    Die Zeit von Mitternacht bis vier Uhr morgens war diejenige, die seit alters die Aufmerksamkeit des Wachpostens auf die härteste Probe stellte. Vitus kannte diese sich zäh dahinziehenden Stunden aus den Tagen, da er mit dem Magister und dem Zwerg zur See gefahren war. »Hundewache« wurden diese Stunden auch genannt, wahrscheinlich, weil niemand zu dieser Zeit einen Hund vor die Tür jagen mochte.
    Das Wetter in dieser Nacht tat ein Übriges, dem Wachläufer das Leben zu versauern. Ein kalter Wind blies von den Ausläufern der Apenninen heran, scharfe Böen, die einem Schauer über den Rücken jagten. Vitus zog die Schultern zusammen und stapfte vorwärts. Er hatte schon ganz andere Stürme erlebt, auf schwankenden Schiffsplanken, den Tod vor Augen. In der unendlichen Weite des Westmeeres war es gewesen, im Rettungsboot der tapferen
Gallant
. Die Besatzung hatte sich zusammengesetzt aus Pater Ambosius, der in Neu-Spanien missionieren wollte, den »Damen« Phoebe und Phyllis, die in Wirklichkeit Hafendirnen waren und sich am anderen Ende der Welt einen Ehemann suchen wollten, dem braven Hewitt und ein paar weiteren Matrosen, dazu dem Magister, dem Zwerg und ihm – ein bunt zusammengewürfelter Haufen, der ums nackte Überleben kämpfte. Ja, es war eine schwere Zeit gewesen. Das schwarze Erbrechen hatte einige der Männer dahingerafft, die Nahrung war ausgegangen und – schlimmer noch – immer wieder auch das Trinkwasser. Zuletzt waren sie nur noch zu fünft gewesen. Fünf Menschen. Und ein Hahn.
    Vitus fröstelte. Er ging schneller. Das Ringfeuer brannte wegen des starken Windes lichterloh. Nach der dritten oder vierten Runde tauchte plötzlich ein

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