Die Mission des Wanderchirurgen
er mit der Rechten zu einer gebogenen Nadel und stach sie von unten hindurch. Jetzt konnte der an der Nadel befindliche Faden die Funktion des Wundhakens übernehmen. Vitus zog ihn stramm, und das Flügelfell blieb in seiner Position. Aufatmend legte er den Wundhaken beiseite.
»Du bist sehr tapfer, Ngongo«, lobte er, »Magister, halte das Lid des Patienten weiterhin ruhig und fest.«
»Mach ich, mach ich«, versicherte der kleine Mann.
»Gut. He, Dienerin, wie ist eigentlich dein Name?«
»Rabia, Herr.«
»Schön, Rabia. Du wirst die Dritte im Bunde sein. Während der Magister und ich operieren, sollst du von Zeit zu Zeit die Tränen von Ngongos Wange wischen. Nimm dazu ein sauberes Tuch. Da auf dem Hocker liegt eines.«
»Ja, Herr.« Die Dienerin tat, wie ihr geheißen.
»Magister, könntest du zusätzlich den Faden nehmen?«
»Nichts leichter als das.« Der kleine Gelehrte wickelte sich den Faden um den Zeigefinger der anderen Hand und hielt ihn stramm.
Vitus, der jetzt wieder beide Hände frei hatte, griff als Nächstes zu einem
Pterygotom
. Das
Pterygotom
war ein Kombinationsinstrument, das auf der einen Seite einen spitz zulaufenden Löffel aufwies, auf der anderen eine Klinge. Er schob den Löffel behutsam unter das Flügelfell, weiter und immer weiter, bis er zum inneren Augenwinkel vorgedrungen war. Auf diese Weise löste er die zarte Membran auf ganzer Fläche vom Augapfel. Anschließend nahm er das Instrument heraus und schob stattdessen einen stumpfen Wundhaken darunter, den
Hamus retusus
.
Nun hielt Vitus mit der Linken den Haken an Ort und Stelle, drehte das
Pterygotom
um und begann mit der Spezialklinge, von innen ausgehend, das Fell an den Rändern zu durchtrennen. Nach kurzer Zeit war auch diese Arbeit getan.
»Du kannst das Lid loslassen, Magister«, sagte er zu seinem Freund, welcher der Aufforderung gerne folgte, weil ihm die Hand langsam einschlief.
Rabia tupfte Tränenflüssigkeit ab.
»Jetzt bin ich gespannt«, sagte der kleine Gelehrte.
»Sieh mich an, Ngongo«, befahl Vitus. Der Patient gehorchte. Er blinzelte ein paarmal heftig und stellte staunend fest, daß er wieder uneingeschränkt sehen konnte. Vitus entfernte zwei, drei kleine Blutstropfen, die sich im Augenwinkel sammelten. Die winzigen Schnitte, aus denen sie heraustraten, würden rasch von selbst zuheilen. Er legte das
Pterygotom
zur Seite. »Das war’s.«
Âmina Efsâneh trug an diesem Tag ein weites, wenig ansehnliches Kleid, das keinerlei Zweifel an ihren ehrenwerten Absichten aufkommen ließ. Auch hatte sie nicht in verschwenderischer Fülle Speisen auffahren lassen wie beim letzten Mal, sondern nur dafür gesorgt, dass eine kleine Stärkung in der Mitte des Tisches stand. An diesem Tisch saß sie nun mit Vitus.
»Erinnert Ihr Euch«, fragte sie freundlich, »wie Euch gestern die scharfen Speisen den Mund verbrannt haben? Wie Ihr seht, besteht diese Gefahr heute nicht. Die kleinen Bällchen allerdings, die ich Euch abermals anbiete, löschen nicht nur das Feuer im Mund, sie sind darüber hinaus äußerst schmackhaft. Nehmt nur eines.«
Vitus tat es. Es mundete ihm, deshalb kaute er es sorgfältig durch, bevor er es hinunterschluckte. »Es schmeckt überwiegend nach Honig«, sagte er. »Schon gestern fiel mir das auf. Was ist denn noch darin?«
Die Hausherrin lachte. »Wenn ich das wüsste! Meine Dienerin Rabia kauft die Dinger immer auf dem Markt. Versucht ruhig noch eines, Cirurgicus, und dann müsst Ihr mir unbedingt nochmals den Operationsverlauf schildern.«
»Warum nicht.« Vitus schob sich ein weiteres Kügelchen in den Mund. Dann begann er mit kurzen, knappen Worten den Eingriff zu beschreiben. Während er das tat, griff er zu einem dritten und vierten Bällchen.
»Die Operation war einfach«, sagte er abschließend, »sehr einfach«, und er glaubte förmlich zu fühlen, wie einfach sie gewesen war. Eine Art Beschwingtheit überkam ihn, womöglich, weil er in Bälde zu neuen Ufern aufbrechen würde. Sein Bein tat ihm überhaupt nicht mehr weh. Er hatte es während der Operation, die er im Stehen vornehmen musste, überhaupt nicht gespürt. Ja, die Operation war einfach gewesen, und er fragte sich, wann er den nächsten Eingriff würde vornehmen müssen. Und bei wem. Schade eigentlich, dass ich Tanger schon verlasse, dachte er, es ist eine schöne Stadt. Alles ist schön hier, alles.
Selbst Âmina, die ihm gegenübersaß, war schön. Die harten Linien, die er gestern trotz des Kerzenlichts in
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