Die Mission
Zuschauer, so denken konnten. Vielleicht hatte ihre Mutter recht gehabt, als sie ihr immer wieder einschärfte, dass Menschen, die glaubten, sie wären anderen überlegen, nur von ihren eigenen Minderwertigkeitsgefühlen ablenken wollten. Wie auch immer, Ella hätte jedenfalls kein größeres Aufsehen wecken können, wenn sie aus einem Ufo gestiegen wäre.
Trotzdem war ihr klar, dass das Publikum nicht nur wegen ihrer Hautfarbe so verstört war. Ebenso entsetzt war es über ihr Kostüm, oder besser gesagt, den halbnackten Körper darunter. Als sie sich ihre Aufmachung für die heutige Vorstellung ausgedacht hatte, wollte sie das Publikum so sehr schockieren, dass es alles andere vergaß. Auf keinen Fall sollten die Zuschauer denken, sie nähmen an einem phantastischen Theaterstück teil. Um das zu erreichen, dessen war sie sich bewusst, musste sie sie reizen und eine Menge Fleisch zeigen.
Nicht dass Ella sich geziert hätte, nackt aufzutreten. Sie hatte nur nicht gewollt, dass ihr nackter Körper von Kerlen wie Burlesque Bandstand ausgebeutet wurde. Ihn für ihre eigenen Zwecke zu benutzen machte ihr nicht das Geringste aus. Sie wusste, dass sie ein schöne Frau war, und hatte keinerlei Skrupel, ihre Sexualität einzusetzen, um Männer gefügig zu machen. Und wie sie in den Gesichtern der Männer, die sie betrachteten, lesen konnte, hatte sie sie tatsächlich völlig in der Hand. Vor allem Heydrich …
Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Möglich, dass ihr durchsichtiges Kostüm oder ihre aufreizenden Bewegungen ihn verzaubert hatten – jedenfalls schien dies bei den anderen Männern der Fall zu sein –, doch es steckte offensichtlich mehr dahinter. Es war, als versuchte Heydrich sich an etwas zu erinnern. Als würde er sie wiedererkennen, sich an ihre erste Begegnung in Fort Jackson erinnern. Doch das war unmöglich. Zumindest hoffte sie es.
Sie stöhnte laut auf, als litte ihre Seele Höllenqualen, drehte sich um und wandte ihm den Rücken zu, um sich zu beruhigen. Dann wackelte sie einmal kräftig mit dem Hintern, um den Kerl abzulenken. So etwas hatte er bestimmt noch nie gesehen.
Der Tanz, den sie sich ausgedacht hatte, war gar nicht so leicht, denn sie musste so tun, als würde sie mit einem unsichtbaren Partner tanzen, dem Großen Gott Bondye. Ganze fünf Minuten lang bewegte sie sich immer verführerischer und lasziver und zog die ganze Aufmerksamkeit des Publikums auf sich, bis es für nichts anderes mehr Augen hatte.
Und während sie tanzte, schien etwas Bemerkenswertes zu geschehen. Es war, als nähme Liliths Seele von ihr Besitz. Jetzt war sie nicht nur angezogen wie Lilith, sie war Lilith. Ella schwelgte in der Macht ihrer Schönheit und ihrer erotischen Ausstrahlung auf die Zuschauer. Es machte ihr Spaß, sich immer wollüstiger und herausfordernder zu bewegen. Sie reizte das Publikum, indem sie näher ins Rampenlicht rückte, bis das Licht ihren Körper überflutete und für einen kurzen Augenblick seine tiefsten Geheimnisse preisgab. Sie wiegte sich in den Hüften und glitt über den Boden, während unter dem hauchdünnen Kostüm immer wieder ein Stück Haut aufschimmerte. Sie schrie und stöhnte, sie sang und heulte.
Gleichzeitig näherte sie sich unmerklich dem Altar des hounfo , wo Norma Williams lag.
Es war das erste Mal, dass sie Norma im richtigen Leben zu Gesicht bekam, obwohl sie auf den Titelseiten aller Klatschmagazine abgebildet war. Sie enttäuschte sie nicht. Sie war der Inbegriff eines rebellischen Teenagers, mit gefärbtem Haar, vielen Tätowierungen, Piercings und einem Ausdruck, als hätte sie ständig einen unangenehmen Geruch in der Nase. Sogar die Prellung, die ihr halbes Gesicht bedeckte, passte zu dem Rest.
Ohne ihren Tanz zu unterbrechen, kreiste Ella heulend und schreiend um den Altar, als ränge sie mit dem Geist, der erschienen war, um Besitz von ihr zu nehmen. Bis sie plötzlich zuckend und stöhnend zu Boden sank.
Das war das Zeichen für Vankas Auftritt. Er gab Burlesque, der hinter den Kulissen stand, ein Zeichen, der daraufhin die Gaslampen abblendete. Jetzt wurde der Saal nur noch von flackernden Kandelabern erleuchtet, die eine düstere, bedrohliche Atmosphäre erzeugten.
Dann wandte sich Vanka erneut an das Publikum. »Kamerad Führer, Kamerad Stellvertretender Führer … Eure Heiligkeit … Kameraden und Kameradinnen … dieses symbolische Gebäude«, er zeigte auf die hohen Wände des Tempels, »wurde entworfen, um die übersinnlichen Wellen
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