Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
Kirchenschiffs.
Wenn du da bist, begann sie von neuem, dachte aber jetzt an Carl und wusste noch immer nicht weiter in ihrem Satz. Wo sollte er schon sein, Carl? In ihrem Rücken hörte sie Schritte. Sie drehte sich um. Eine Mutter war mit ihrem kleinen Kind eingetreten. Helene neigte den Kopf, sie legte die Stirn auf ihre gefalteten Hände. Lass mich verschwinden, flüsterte sie, da war kein Selbstmitleid mehr, Helene spürte nichts als den klaren Wunsch nach Erlösung.
Wo? Hörte sie die hohe Kinderstimme hinter sich.
Da, sagte die Mutter, da oben.
Wo, ich sehe ihn nicht. Das Kind wurde ungeduldig, es jammerte, wo denn, ich kann ihn nicht sehen.
Man kann ihn auch nicht sehen, sagte die Mutter, nicht mit den Augen, du musst mit dem Herzen sehen, mein Kind.
Das Kind war jetzt stumm. Ob es mit dem Herzen sah? Helene starrte auf die Kerben der hölzernen Bank, ihr graute; wie konnte sie Gott um etwas bitten, wo sie ihn doch so lange vergessen hatte. Verzeih, flüsterte sie. Carl war nicht gestorben, damit sie sich nach ihm verzehrte. Er war grundlos gestorben. Sie würde ein Leben so verbringen können, mit der Hoffnung auf eine Antwort, die es nicht gab. Helene stand auf und verließ die Kirche. Auf dem Weg hinaus ertappte sie sich, wie sie weiter nach Zeichen suchte, nach Zeichen seiner Existenz und ihrer Erlösung. Draußen schien die Sonne. Sollte das schon ein Zeichen sein? Helene dachte an ihre Mutter. Vielleicht galten ihr all die Dinge, die sie entdeckte, die Baumwurzeln und Flederwische, als Zeichen? Das sei kein Tinnef, hörte Helene die Stimme ihrer Mutter. Mehr als Gedächtnis und Zweifel des Menschen, das hatte die Mutter einmal gesagt, brauche ein Gott nicht.
Die Miete der Dachkammern und Zimmer, die sich Helene ansah, war zu teuer. Ihr fehlte das Geld, und stets wurde nach ihrem Mann und ihren Eltern gefragt, wenn sie sich einer Wirtin vorstellte. Um Fanny nicht zur Last zu fallen und Erich besser aus dem Weg gehen zu können, bat Helene um ein Zimmer im Schwesternheim.
Ihre Papiere fehlen, bemerkte die Oberschwester freundlich. Helene behauptete, aus Bautzen wäre die Nachricht gekommen, dass es einen Brand gegeben habe und alles vernichtet sei. Die Oberschwester zeigte Mitleid und gewährte Helene, ein Zimmer zu beziehen. Nur möge sie rasch die neuen Papiere beschaffen.
Martha kehrte aus dem Sanatorium zurück und bezog eine Wohnung mit Leontine. Sie arbeiteten so viel, dass Helene Martha und Leontine nur alle paar Wochen, manchmal erst nach Monaten traf.
Die Wirtschaftskrise erreichte ständig neue Höhepunkte. Niemand blieb verschont. Es war gekauft und verkauft worden, spekuliert und ergattert, jeder sprach davon, er wolle jetzt auf keinen Fall Verluste realisieren, doch noch war die List nicht gefunden, das Realisieren zu vermeiden. Fanny feierte Erichs Geburtstag. Sie feierte ihn groß. Sie feierte ihn am größten, größer als sich selbst, größer als jedes bisherige Fest sollte das ihm zu Ehren werden. Erich hatte sich in den Monaten zuvor häufig von Fanny getrennt und war dennoch immer wieder und nun auch zum Geburtstag erschienen. Fanny hatte weitläufig eingeladen, Freunde und Unbekannte, solche, die nur Erich kannte, und solche, die nicht einmal wussten, dass sie mehr als seine Tennispartnerin war.
Helene hatte nicht kommen wollen, war aber von Leontine und Martha genötigt worden. Vielleicht hatten die zwei ein schlechtes Gewissen, weil sie sich so lange nicht um Helene hatten kümmern können.
Fannys Einladung erschien Helene als Versuch einer Wiederbelebung, lebenserhaltende, lebensverlängernde Maßnahme, klägliches Zitat früherer Einladungen. Die Gäste waren noch prunkvoll gekleidet, da glitzerten die Glassteinchen, sie sprachen noch über Pferdewetten und die Kurse an der Börse, mehr als siebzigtausend Konkurse in diesem Jahr, und soeben wurde die Marke von sechs Millionen Arbeitslosen überschritten, es wurde eine Opium-Pfeife angesteckt, dem standen lediglich zwölf Millionen Beschäftigte gegenüber, kein Wunder, die Löhne mussten gekürzt werden, bis zu fünfundzwanzig Prozent, Ansichten und Meinungen zum Zusammenbruch der Pis cator-Bühne wurden ausgetauscht, Helene wollte nicht zuhö ren. Sollte es ihr unangenehm sein, dass sie eine Beschäftigung hatte? Ein Leben ohne das Metronom ihrer Tätigkeiten im Krankenhaus war undenkbar. Helene schaute auch nicht hin über zum Baron und seiner Pina, die noch im vorletzten Jahr geheiratet hatten und die sich seither
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