Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
löst sich aus dem Griff von Kraczinski und tritt zornig gegen den Autoreifen, wischt sich mit dem Handrücken das Blut von der Nase und seine Handfläche donnert auf das Autodach. »Lass mich«, herrscht er Kraczinski an, der sich ein paar Schritte entfernt. Prenzel reißt die Autotür auf, fällt auf den Fahrersitz und knallt die Tür zu. Die Hände auf das Lenkrad gekrallt, sitzt er in seinem Auto und starrt durch die Windschutzscheibe und Frank wettet, dass der Alte nichts durch seine Tränen sieht.
Man wendet sich ab, die Radios werden lauter, die Arbeit wird fortgesetzt, als wäre nichts geschehen.
Man kennt sich. Die meisten haben ihre Häuskes renoviert, denn für so wenig Geld kriegt man sonst kein Eigenheim. Und gesoffen wurde schon immer zu viel. Da ist man einiges gewohnt.
Frank dreht sich langsam zu seinem Sohn, der kreidebleich ist und langsam den Kopf schüttelt. Sie haben erlebt, dass Vater und Sohn sich prügelten, haben das schier Unaussprechliche erlebt. Sie sind Zeugen einer Grenzüberschreitung geworden, die bei ihnen, Frank und Thomas Wille, undenkbar ist.
»Mein Gott ...«, murmelt Tom.
Frank will zu ihm gehen, will ihm etwas sagen, aber sein Stolz ist hart und seine Prinzipien stehen ihm im Weg. Tom nickt und kommt zu ihm. »Haste das gesehen?«
» Du nicht?«
Tom nickt erneut.
»Und?«, fragt Frank.
» Ich fahr nach Berlin.«
» Ach?« Verdammter Stolz.
» Onkel Otto bietet mir eine Anstellung. Bei der Versicherung. Vielleicht kann ich dann in Dortmund arbeiten ... nach der Ausbildung.«
» Soso. Bleibst du lange weg?«
» Nur ein paar Tage.«
» Aha.«
» Soll ich ihn von dir grüßen?«
» Wenn du willst ...«
» Tut mir leid, was ich dir sagte.«
» Was meinst du?« Gottverdammter Stolz.
» Weißt du doch. Das mit dem Mörder und so. Ist mir einfach so rausgerutscht.«
» Weiß ich.«
» Guck dir die Prenzels an. So was geht doch nicht, oder? Vater und Sohn kloppen sich ...«
» Nee, das geht nicht, Filius.«
» Also, wie gesagt, es tut mir leid.«
» Alles klar.«
Sie stehen sich gegenüber. Dann nehmen sie sich in den Arm. Drücken sich. Nicht lange, nur ein paar Sekunden, aber es genügt beiden Männern, die Mauer zwischen sich einzureißen und wieder Vater und Sohn zu sein.
16
Mike Stern lehnt sich auf den Tresen und trinkt ein weiteres Bier, das ihm morgen zu schaffen machen wird. Der Lärm um ihn herum ist die Stille in ihm, und er erinnert sich an das seltsame Skatspiel im Palais Schaumburg, bei dem er zugegen war, und den dicken, sensiblen Kanzler kennenlernte. Es war ein beeindruckendes Erlebnis gewesen, damals. Kürzlich ist dieser Mann, ist Ludwig Erhard gestorben. Achtzig ist er geworden, genauso wie Sepp Herberger, den es fast zur gleichen Zeit traf.
Beide Männer haben den Deutschen so viel gegeben.
Wirtschafts- und Fußballwunder!
So schließt sich der Kreis zu einer Zeit, die schon so weit entfernt ist, dass die seitdem vergangenen Jahre wie eine ganze Ewigkeit wirken. Damals, ja damals, war alles ganz anders. Beschaulicher. Es roch nach Ruß und Aufbruch. Würde man darüber schreiben, müsste man es mit muffiger Sprache und behäbiger Syntax tun. Ganz anders als heutzutage.
Mike, noch immer bei der Berliner Rundschau , schreibt nur noch selten selbst, da er Chef vom Dienst ist, inzwischen nicht mehr in Bergborn, sondern in Berlin. Lediglich die politischen Kommentare beansprucht er für sich, doch auch den hat er heute einem Kollegen überlassen.
Die jüngere Vergangenheit und die Gegenwart sind ein Gemenge des Wahnsinns. Damit meint Mike nicht, dass Jimmy Carter US-Präsident wurde, denn dessen Können würde sich beweisen müssen, oder eine Feministin eine Zeitschrift namens »Emma« herausbrachte, sondern die Ereignisse um Siegfried Buback. Der Generalstaatsanwalt war von RAF-Terroristen auf offener Straße erschossen worden, als er in Karlsruhe seiner Arbeit nachgehen wollte. Das Stuttgarter Oberlandesgericht verurteilt daraufhin die Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe zu lebenslangem Gefängnis. Hätte man gekonnt, wäre für die Terroristen die Todesstrafe wiedereingeführt worden, was für sich spricht. Es scheint, als sei die RAF-Sache auch damit noch nicht ausgestanden, denn die deutschen Politiker hetzen umher wie gejagte Kaninchen, irgendwo zwischen Verfolgungswahn und Sittlichkeit. Und es gab die nächste Generation. Hans Martin Schleyer, tot aufgefunden in einem Kofferraum. Mogadischu, GSG
Weitere Kostenlose Bücher