Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
9.
Dann starben zuerst Ulrike Meinhof, erhängt an einem Fenster, und später Baader und seine Freunde. Selbstmord, sagte man und niemand glaubte es. Man hatte sie hingerichtet, um den Mythos zu zerstören. Und hatte ihn genau dadurch geschaffen.
Mike hofft, alt genug zu werden, um zu erleben, wie man über diese Dinge denken wird, ob man sie verarbeitet oder das Trauma nicht los wird, ob man handlungsfähig sein wird und rational, den inneren Wahnsinn der Rache sachlich sehend.
Und noch ein Bier.
Der größte Wahnsinn jedoch ist die Trennung von Marita. Er liebt sie noch immer, aber nun ist Schluss, einfach so, wie es Kästner in einem Gedicht beschrieb, das er stets hochschätzte und nun mit Trauer und gekürzt in Gedanken rezitiert.
Als sie einander acht Jahre kannten,
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.
Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wussten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.
Sie gingen ins kleinste Café am Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.
Mike überlegt, ob ihn das heulende Elend erfassen soll, oder ob er zur Musikbox geht, wo er die Wahl hat zwischen Daddy Cool von Boney M. oder More Than A Feeling von Boston. Rockmusik oder Tanz oder beides? Fünfzig Pfennige und die Welt ist in Ordnung.
Nein, Scheiße ist die Welt. Obwohl er sich ein paar Tage Urlaub genommen hat. Er fährt nicht weg, sondern bleibt in Berlin. Wenn man hier lebt, hat man alles, was man braucht.
Er blickt auf.
Er ist in einer der neuentstandenen, sogenannten Trampelpfadkneipen, linksorientierte Läden, wo man sich begegnet, quatscht, säuft und raucht, ein jeder, was er rauchen will. Jener Erich Kästner, der Mikes und Maritas Zukunft zu kennen schien, hatte schon vor vierzig Jahren in einem Gedichtband, den Mike leidenschaftlich goutierte, an jeder zweiten Ecke in Berlin ein Haus »in dem sie Skat und Pianola spielen« gesehen. Mit Politfreaks und Achtundsechzigern hätte er sicherlich nicht gerechnet. Wie heißt der Laden? »Wohnzimmer«? Egal, es gibt so viele davon.
Die Tür öffnet sich und ein Mann tritt ein. Er mag Mitte zwanzig sein. Seine glatten Haare sind nackenlang, sein Gesicht schmal mit einer runden Brille, wie John Lennon sie trägt. Überhaupt ähnelt er dem Beatle. Jeans, Lederjacke, fast einsneunzig hochgewachsen und fast schon dürr. Ein interessanter Kerl, nicht hübsch oder attraktiv, aber mit einer starken Persönlichkeit ausgestattet, die er erhobenen Hauptes vor sich herträgt. Der Mann erinnert Mike an jemanden, der ihn mit einem Foto vermögend gemacht hat, das er in einer lauen Sommernacht von einem Mann machte, der sich an der Spitze eines Fahnenmastes festhielt, weiß Gott, was er da wollte, mit einer zufälligen Bewegung symbolträchtig die Hand in den Himmel richtete, während der Vollmond die Silhouette anstrahlte, und von dem Mike ahnt, dass es sich um einen Bergmann handelt, der Frank Wille heißt. Das Foto wurde weltberühmt. Mike verkaufte es an alle großen Bildagenturen. Heute hat es einen ähnlichen Stellenwert wie das Bild der Soldaten, die in Iwo Jima die Flagge hissten, da es Leidenschaft und Entschlossenheit ausdrückt.
Mike blinzelt in den Tabak- und Grasrauch und fragt sich, ob er den Mann ansprechen soll, der sich neben ihn stellt und mit tiefer Stimme ein Bier bestellt. Dann trifft ihn ein Seitenblick und ihre Augen finden sich.
Lady In Black von Uriah Heep säuselt aus der Musikbox. Immer dieselbe Reihenfolge, egal in welche Kneipe man geht. Zuerst das, dann Hotel California und manchmal auch Ti Amo , von wem auch immer das ist.
» Wir kennen uns, nicht wahr?«, fragt Mike, dessen Zunge etwas schwer ist, aber es geht noch.
» Ja, wir kennen uns«, strahlt der junge Mann und sein Zeigefinger schießt vor. »Mike Stern von der Rundschau in Bergborn, stimmt’s?«
» Der kleine Wille«, gibt Mike zurück.
Thomas Wille nickt.
»Der kleine Wille, dessen erste literarische Ergüsse ich veröffentlichen durfte.«
Sie reichen sich die Hand und Mike staunt über den festen Griff.
»Was verschlägt dich nach Berlin?«, fragt Mike und wird sich, als er Thomas mustert, seines eigenen Alters bewusst. Die letzten zehn, zwölf Jahre haben an ihm gezehrt, nicht nur
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