Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
an Langzeitpatienten gelegen. Deshalb hören Sie zu und hören zu und hören zu. Sie wiederholen Sätze, praktizieren Gesprächstechniken und verunsichern mich. Sie drängen mich in die Ecke und hoffe, dass mich der Blitz der Weisheit trifft. Letztendlich jedoch bin ich auf dem Weg dahin, ein Penner zu werden. Das, Herr Drechsel, war nicht der Grund, warum ich zu Ihnen kam. Das wollte ich nicht.« Mike redet und redet und ihm laufen Tränen über die Wangen, er zieht zornig den Schnodder hoch und reißt das Paket mit den Papiertaschentüchern auseinander. Er schnaubt in ein Taschentuch, wirft es auf den Tisch, springt auf.
Drechsel sagt nichts mehr, aber in seinen Augen blitzt etwas, dass ein Triumph sein mag. Und um seine Lippen spielt ein zufriedenes Lächeln.
Mike geht und zieht die Tür hinter sich zu, ganz sanft, ganz leise.
Auf der Straße überfällt ihn der Lärm der Großstadt. Am liebsten will er sich die Ohren zuhalten. Alles ist schnell, hektisch und laut. Er dreht sich um, betrachtet das Namensschild des Psychologen und für eine Sekunde überlegt er, noch einmal in die Praxis zu gehen, um sich zu entschuldigen, dann lacht er hart, spuckt aus, zündet sich eine Reval an und geht in die nächste Kneipe.
4
Thomas ist entspannt. Er drückt Lydia an sich und seufzt in ihr duftendes Haar. Sie haben sich geliebt und es war schön wie lange nicht mehr.
Danach hat er ihr aus seinem neuen Roman vorgelesen. Nein, eigentlich ist es sein alter Roman, noch immer Die Tränen der Anderen.
Er hat lange und hart daran gearbeitet, gefeilt, gekürzt, hinzugeschrieben und das Manuskript wieder ruhen lassen. Dann hervorgeholt und erneut gelesen, den Abstand gebraucht, korrigiert, geglättet, beschnitten und behauen, wie ein Handwerker einen ganz besonderen Tisch.
Nun scheint es gut und fertig zu sein, umfangreicher als zuvor und vollkommen.
Lydia sagt: »Ich finde es wundervoll. Etwas düster vielleicht, ein bisschen deprimierend auch ...«
» So ist das Leben. Ich bin kein Groschenheftautor, bei dem alles heile Welt ist.«
» Aber wollen die Leute so etwas lesen? So viele Verlierer, deine Darsteller machen so viele Fehler ...«
» Man nennt sie Protagonisten«, verbessert Thomas.
» Von mir aus«, rümpft Lydia die Nase. »Jedenfalls gibt es in deinem Buch kaum etwas zu lachen, eigentlich gar nichts.«
» Also gefällt es dir nicht?«, fragt Thomas.
» Doch, schon ...«
» Sei ehrlich.«
» Es ist schön geschrieben. Aber ich hätte gerne mehr Freude dabei. Menschen bestehen doch nicht nur aus Kummer. Sie haben auch Vergnügen und Spaß. Aber das finde ich bei dir nicht. Überhaupt bist du so ernst, manchmal auch zornig. Das fließt in den Roman ein, glaube ich. Wer dich kennt, findet dich ganz oft wieder. Zwischen den Zeilen. Man liest deine Wut, die du auf wer-weiß-wen hast und die ich nicht begreife, schließlich geht es dir gut, wir verdienen gemeinsam genug Geld und haben uns lieb. Unsere Wohnung ist schön, und dass es mit dem Kind nicht klappt, ist nicht so wichtig. Notfalls geht es auch ohne. Warum also bist du so düster?«
So ist Lydia. Von einer Literaturkritik zum Beziehungsstreit. Nein, ein Streit wird es erst, wenn er sich drauf einlässt, und das hat er nicht vor. Nicht so kurz nach einer Liebesstunde.
Thomas grunzt und wendet sich der Stereoanlage zu. Während ganz Deutschland Santa Giselle von Roland Kaiser oder Herbert von Gottfried Wendehals hört, ist Thomas bei seiner geliebten Rockmusik geblieben. Schlagermusik empfindet er wie körperlichen Schmerz und Dieter Thomas Heck mit seiner Hitparade findet er grotesk. Für ihn verkörpert diese Musik das Spießertum in Deutschland. Fette, blödgesichtige Frauen und Männer, die mit glänzenden, von Bier und Wein aufgeschwemmten Gesichtern, dasitzen und schunkeln, und am liebsten Samstagabend beim Blauen Bock den Bembel schwingen.
Ja, Lydia hat Recht. Er ist zornig, sonst wüsste er, dass vollgekiffte und besoffene Kids bei einem Rockkonzert auch nicht besser sind.
Er mag Rush, Yes, Peter Gabriel und wenn es romantisch sein soll, das Electric Light Orchestra. Er legt Musik auf und sieht Lydia an, die irgendwie noch etwas wissen will. »Du hast meine Frage nicht beantwortet. Warum bist du so oft düster? Ich meine ... du kannst lustig sein und über vieles lachen, aber viel zu selten.«
» Das erste, was Leser lernen sollten, ist das Gesetz der Unerbittlichkeit, denn so ist das Leben«, zuckt Thomas mit den Achseln und lässt den
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