Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
erzielen, problemlos leben ...«
» Ich habe kein Geld mehr dafür genommen. Schon lange nicht mehr und alles, was ich hatte, ist weg.«
Der Psychologe lächelt. »Ich erinnere mich, wie Sie damals zu mir kamen. Direkt von einer Party. Sie waren verzweifelt und sagten mir, dass Sie die Frauen, den Alkohol, das Kokain und den Porsche satt hätten. Sie waren gekleidet wie ein Playboy und rochen auch so.«
» Und nun rieche ich nach Schnaps und Schweiß. Eigentlich kein großer Unterschied«, knurrt Mike. »Ich sollte mich fragen, was wir miteinander bewirkt haben, nicht wahr?«
» Sie sollten sich fragen, was Sie bewirkt haben.«
» Was meinen Sie damit?«
» Jeder geht seinen eigenen Weg und Sie haben sich für diesen Weg entschieden. Sie haben Ihr Geld verprasst und leben vom Sozialamt. Das macht Sie nicht zu einem schlechten Menschen. So kann man leben. Und zwar sehr lange und gar nicht schlecht. Warum sollten Sie etwas an Ihrem Leben ändern? Die Antidepressiva, die ich Ihnen verschreibe, verlieren ihre Wirkung, wenn man sie mit Alkohol kombiniert. Und falls das Sozialamt Ihnen irgendwann den Hahn zudreht ...«
» ... lande ich auf der Straße.«
» Was also haben Sie bewirkt? Sind Sie zufrieden damit?«
Mike senkt den Blick, obwohl die Worte des Psychologen sachlich klingen. »Nichts. Ich habe nichts bewirkt.« Verdammt, der Mann hatte ihm die Worte im Mund umgedreht und zudem noch recht.
» Sie wissen, Herr Stern, dass ich Ihnen niemals sagen werde, was sie tun und lassen sollen. Wir reden miteinander und es liegt in Ihrem Ermessen, was Sie daraus machen.«
» Wäre es nicht Ihre Aufgabe, mir Ratschläge zu erteilen?«
» Meine Aufgabe besteht darin, Ihnen Denkanstöße zu vermitteln.«
» Meinen Sie, ich solle wieder Geld für das Foto nehmen? Es käme mir vor wie ein Blutzoll. Wegen dieses Fotos mussten Menschen sterben.«
» ... die nicht wieder lebendig werden.« Ganz sachlich.
Mike schweigt. Das erlebt er öfters. Die Worte verirren sich und er weiß nicht mehr, was er sagen soll. Laut Drechsel sei besonders das Schweigen wichtig, weil sich in diesen Minuten die Gedanken fügen. Er wies Mike wiederholt darauf hin, dass man sich nicht begegne, um ununterbrochen zu reden, da auch in der Stille etwas Entlastendes liege.
Nach einer Weile, die ihm unendlich vorkommt, flüstert Mike: »Nein, sie werden nicht wieder lebendig.«
Der Psychologe sagt nichts und wartet ab. Das bringt Mike hin und wieder auf die Palme. Dann fühlt er sich manipuliert, denn stets ist er es, der den Gesprächsfaden wieder aufnimmt, womit er Drechsel die Führung überlässt.
»Ich wünschte, ich könnte das wieder gutmachen«, sagt Mike und nun sieht er sein Gegenüber an.
» Nehmen Sie an, Sie tun Buße. Wird sich Ihr Seelenzustand verändern?«
» Wie sollte diese Buße aussehen?«
» Wie sollte sie aussehen?«
Mike überlegt nicht lange. »Verdammt, wenn man sich mein Leben anguckt ...«
» Man?«
» Okay, wenn ich mir mein Leben anschaue, werde ich das Gefühl nicht los, schon genug bestraft zu sein.«
» Sie leben wie viele Menschen in diesem Land.«
Mike möchte hochfahren. Immer dasselbe. Der Mann drängt ihn in die Ecke und er weiß nicht mehr aus noch ein.
»Ich möchte wieder arbeiten.«
» Was hindert sie daran, sich Arbeit zu suchen?«
» Mich will keiner mehr.«
» Wie lange ist es her, dass Sie auffällig waren?«
» Fast zwei Jahre.«
» Das ist lange her.«
So vergehen die fünfzig Minuten und schließlich sagt Mike: »Das war meine letzte Therapiestunde!«
Dieter Drechsel, Diplom-Psychologe, fährt fast unmerklich auf. Er sieht seinen Klienten aufmerksam an.
»Es ändert sich nichts, verstehen Sie?«, fragt Mike, dem sein hastig hingesagter Satz schon jetzt leidtut. Er hätte es anders sagen können. Es ist taktlos, die letzte Minute einer Therapiestunde dafür abzuwarten.
» Sind Sie sicher?«, fragt Drechsel, der nun etwas verunsichert wirkt.
» Ja, das bin ich«, bestätigt Mike. »Ich vertraue Ihnen und ich glaube ganz fest daran, dass ein Ratschlag von Ihnen mich weiterbringen würde. Ist es nicht so, dass Patienten ihrem Therapeuten vertrauen? Könnten Sie dieses Vertrauen nicht dafür nutzen, mir den Weg zu weisen? Ja, das könnten Sie und Sie wissen, dass der Patient jeden Rat annehmen würde. Doch dann wäre er weg und Sie verlieren Geld. So ist es. Ich wette, jeder Patient wäre nach zehn Therapiestunden auf dem Weg der Besserung, wenn Sie es wirklich wollten. Aber Ihnen ist
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