Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
Tonarm sinken. Es knistert. Dann beginnt die Musik. »Vielleicht liegt das aber auch in meiner Kindheit. Sagt man doch, oder? Alles liegt in der Kindheit. Vielleicht kompensiere ich meinen übermächtigen Vater und meine lieblose Mutter. Ist Scheiße, dass sich das erst so spät zeigt. Manchmal glaube ich, je älter man wird, desto bekloppter wird man.«
Sie rutscht vom Bett, hüpft ganz reizend zu ihm und hängt ihre Arme um seinen Hals. »Siehst du?«, zwitschert sie. »Jetzt lachst du, jetzt strahlen auch deine Augen.« Sie küsst ihn und es ist herrlich. »Aber wenn du nichts aufpasst, machst du irgendwann Dummheiten, die du nicht gutmachen kannst. Das spüre ich.«
Er lacht überheblich, wie er sich selbst eingesteht.
»Lach du ruhig«, sagt Lydia und sieht wunderhübsch aus mit ihrer Stupsnase, den roten Haaren und den Sommersprossen. Ein Pippi-Langstrumpf-Traum in groß. Schlank, feste Brüste, ein flacher Bauch und makellose Haut, dazu intelligent und hingebungsvoll.
Ich habe Glück gehabt, denkt Thomas und als ahne sie, was er denkt, sagt sie: »Wie wäre es mit etwas Dankbarkeit?«
Er knurrt und schiebt sie von sich weg, obwohl er das nicht will. Er erwägt nicht, bevor er handelt, und um den Kreis zu schließen, sagt er hart: »Wofür sollte ich dankbar sein? Heute morgen, der Brief, kannst du dich daran erinnern?«
» Hast du ihn geöffnet?«
» Ein Einberufungsbescheid zu einer Wehrübung. Drei Wochen Soldat spielen. Ich kann mir was Besseres vorstellen.«
Sie schüttelt den Kopf. »Und wieder der alte Pessimist. Sei froh, dass es nicht sechs Wochen sind. Und sehe es doch mal andersrum ... du darfst drei Wochen Urlaub vom Beruf machen, bekommst die Zeit bezahlt und spielst Cowboy und Indianer. Gibt es was Schöneres für einen Mann?«
Thomas möchte am liebsten die Augen verdrehen. Liebe Güte, sie versteht das nicht.
Stattdessen sagt er: »Ja, es gibt was Schöneres.«
Er hebt sie hoch, Haut an Haut, Duft an Duft, und trägt sie zum Bett.
Später gehen sie zu Thomas’ Eltern. Man will gemeinsam Einer wird gewinnen anschauen, denn seit Hans-Joachim Kulenkampff noch einmal zur ARD zurückgekehrt ist, hat die Samstagabendshow wieder den Glanz vergangener Zeiten. Obwohl Thomas das Fernsehballett und die Musik des NDR-Unterhaltungsorchesters unerträglich findet, schauen sie gemeinsam, bis die Sendung um mehr als dreißig Minuten überzogen hat und Butler Martin Jente dem Moderator den Hut und den Mantel reicht.
Vater köpft die dritte Bierflasche, Lydia nuckelt an ihrer Cola, Mutter trinkt Wein und Thomas prostet seinem Vater mit Linden-Pils zu.
»Kulenkampff ist der Größte«, sagt Vater.
» Ganz okay ...«, murmelt Thomas und fängt sich einen strafenden Blick von Lydia ein, die sich bei seinen Eltern pudelwohl fühlt.
Die CSU sendet einen Wahlkampfaufruf. »Das ist Familie Strauß«, sagt der Sprecher und zeigt, wie lustig es bei Straußens zuhause ist. Der korpulente Politiker sitzt neben seinen Kindern in der guten Stube und bemüht sich, hochdeutsch zu sprechen. Er betont die Bedeutung dieser Bundestagswahl und die geschichtliche Tragweite der politischen Entscheidung. Er verweist auf die Parallelen zur Richtungsentscheidung bei der 1. Bundestagswahl 1949 und fordert die Erhaltung, die Stützung und den Ausbau der freiheitlichen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland.
» Gequirlte Kacke«, sagt Vater. Mutter grinst und Thomas staunt, dass sie diese Ausdrucksweise toleriert. Es hat sich was getan im Hause Wille, denkt er. Vor allen Dingen, seitdem die Bälger aus dem Nest sind, nicht wahr? »Wenn der Bundeskanzler wird, gehe ich auf die Straße.«
Frank Wille ist SPD, und zwar beinhart. Wie alle hier in Bergborn. Das ist eine Arbeiterpartei. Die Wiege eines Karl Liebknecht, eines Otto Rühle, und sogar Rosa Luxemburg kann man noch dazu zählen.
»Ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik«, sagt Vater. »Zum ersten Mal bewirbt sich ein CSU-Mann um den Kanzlerposten. Und dann noch dieser Verbrecher. Haben denn alle die Spiegel-Affäre vergessen? Außerdem wollte man sowieso viel lieber diesen Helmut Kohl als Kandidaten. An wie vielen Strippen hat der Bayer gezogen? Das kann doch niemand ernsthaft wollen.« Er lacht. »Strauß gegen Helmut Schmidt. Das ist affig.« Er leert die Flasche und sein Blick ist schon etwas glasig.
Der typische Samstagabend. Fernsehen, Bier trinken und später vielleicht etwas Sex, wenn’s noch geht. Ansonsten Sonntag nach dem
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