Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
geben, aber er findet nichts. Dann fällt es ihm auf und er sagt zu der Frau: »Ich habe selten eine so saubere Wohnung gesehen. Beeindruckend.«
Die potentielle Kundin strahlt und ihr Mann gleich mit.
»Sie glauben nicht, was man in meinem Beruf so alles sieht.« Was es ist, lässt er im Raum stehen, denn die Kunden sollen sich ihr eigenes Bild machen. Selbstsicher strebt Thomas ins Wohnzimmer, denn es ist wichtig, dass er sich hier wohlfühlt, als sei er zuhause. Er ist jetzt der Mittelpunkt der Wohnung. Vor einem Billy-Regal bleibt er stehen. »So eins habe ich auch. Es dauerte Stunden, bis ich es zusammengebaut habe. Ich staune über Ihre Geduld.« Nun hat er den Hausherrn am Haken, der stolz berichtet, er habe keine zehn Minuten benötigt. »Tja«, sagt Thomas. »Ich habe zwei linke Hände.«
Man lacht.
So hat er die Stimmung positiv aufgeladen und breitet seine Unterlagen auf dem Wohnzimmertisch aus. Er verkauft Lebensversicherungen, und ihm ist klar, dass diese Leute viel zu jung sind für sein Angebot. Sie haben fast vierzig Jahre Zeit, bis sie irgendwann, und auch nur vielleicht, die Auszahlung erhalten, haben ein ganzes Leben vor sich bis dahin. In dieser Zeit mag vieles geschehen und für eine Versicherungsgesellschaft gibt es nichts, das sich mehr lohnt, als eine vorzeitige Kündigung des Vertrags. Mehr als die Hälfte der eingezahlten Summe bleibt in den Händen des Versicherers und die Kunden verlieren den Versicherungsschutz. Je länger die Laufzeit, desto größer die Wahrscheinlichkeit einer vorzeitigen Kündigung.
Und dann gibt es noch dieses neue Programm, mit dem Thomas seit einiger Zeit Furore macht und die Rennliste der Gesellschaft anführt. Eine Kinderversicherung mit einer Laufzeit von zwanzig Jahren. Es genügt, wenn die versicherte Person den ersten Schiss in die Windel gelegt hat. Wunderbar, ganz wunderbar!
»Glaube Sie wirklich, das ist sinnvoll?«, fragt der Mann, nachdem Thomas sein Angebot gemacht hat.
» Ich verstehe Sie, Herr Ludgers«, sagt Thomas. Immer den Nachnamen nennen, denn nichts hört man lieber als seinen eigenen Namen. »Ja, ich verstehe Sie und an Ihrer Stelle würde ich genauso denken. Heute kommen Ihnen zweihunderttausend Mark sehr viel vor, aber in vierzig Jahren ist das nicht mehr ganz so viel. Deshalb bekommen Sie und Ihre Frau mehr als das Doppelte ausbezahlt, und wenn zwischendurch etwas passiert – was wir alle nicht hoffen wollen – ist Ihre Frau abgesichert.«
Der Kunde, Herr Ludgers, sieht seine Frau an.
Das Gewissen!, denkt Thomas. Das Gewissen verpflichtet ihn.
» Sie glauben nicht, wie viele Familien ich kennenlerne, in denen nach dem Tod des Partners der Hinterbliebene arm ist wie eine Kirchenmaus. Aber will man so etwas? Ist das wahre Liebe?«
Rumms! Das hakt sich ein und wirkt, weiß Thomas.
»Aber die monatlichen Kosten«, seufzt Frau Ludgers. In ihren Augen blitzt Kaufbereitschaft, oh ja. Sie will den Vertrag, will sich sicher fühlen. Die Zeit der Unsicherheit ist noch nicht lange her, und was irgendwann wird, weiß niemand. Sie sind die Kinder derjenigen, die Deutschland wieder aufgebaut haben und der Spargedanke klingt in ihnen nach. Dafür haben Papa und Mama gesorgt. Sparen muss sein!
» Nicht mehr als eine Schachtel Zigaretten am Tag«, rechnet Thomas die Monatsprämie geschickt auf den Tag um. Am liebsten würde er die Stunde nehmen, aber das wäre übertrieben.
» Ich wollte sowieso aufhören, zu rauchen«, sagt der Mann und Thomas beginnt, den Vertrag auszufüllen. Dabei murmelt er wie zufällig: »Es ist wunderbar, wenn man Menschen begegnet, die verantwortungsvoll denken.« Blickt auf und mustert das Paar. Schüttelt sinnend den Kopf. »Eine Welt ohne Verantwortung. Aber Sie sind das, was Ihre Wohnung ausstrahlt. Eine Insel der Zuverlässigkeit.«
Und er schreibt und schweigt. Das ist der Moment, an dem die meisten Verkäufer scheitern. Die Stille. Sie meinen, reden zu müssen, das Schweigen zu übertönen und dabei reden sie den Verkauf kaputt. Thomas indes ist ein großer Schweiger. Wenn es sein muss, schweigt er minutenlang und lächelt dabei.
Frau Ludgers strahlt und Thomas reicht ihrem Mann den Kugelschreiber. Das ist wichtig, denn der Reflex bestimmt den Kaufimpuls, dennoch fürchten sich die meisten Verkäufer vor diesem Moment, haben Sorge vor der Ablehnung, Angst vor der eigenen Courage. Sofort unterzeichnet Herr Ludgers und Thomas händigt dem Paar die Kopie und das Kleingedruckte aus. Das war die Pflicht und nun
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