Die Mitternachtsrose
Besuch. Er wird sehr erleichtert sein, dass du wohlbehalten bist. «
Anni stellte ihre Tasse auf den Tisch. Dabei fiel ihr Blick auf den Tatler mit den Fotos von der Hochzeit. » Ist das nicht Donald? « , erkundigte sie sich und beugte sich vor, um die Bilder genauer zu betrachten.
» Ja, bei irgendeinem gesellschaftlichen Ereignis … «
Doch es war zu spät. Anni hatte die Zeitschrift bereits in die Hand genommen.
Der Tatler gratuliert zur Hochzeit des Jahres von Lord Donald Astbury und Violet Rose Drumner …
Anahita starrte die Fotos einige Sekunden lang an, bevor sie sich mit gequältem Blick in ihrem Stuhl aufrichtete. » Er hat geheiratet? « , fragte sie, den Tränen nahe. » Warum hast du mir das nicht gesagt? «
» Anni, ich … «
» Ich kann es nicht glauben. Ich hatte ihn doch gebeten, auf mich zu warten … « Anahita ballte die Hände zu Fäusten und schlug sich damit gegen die Stirn.
» Anni, bitte. Donald hatte monatelang nichts von dir gehört. Und Indira hat gesagt, du würdest von Paris aus direkt nach England fahren. Als du nicht zurückgekommen bist, stand für ihn fest, dass du ihn nicht mehr willst. Bitte, deine Abreise nach Indien ist jetzt fünfzehn Monate her. Ich weiß, Anni, du hast das wirklich nicht verdient « , schloss Selina, der die Allgemeinplätze ausgingen.
» Ich muss gehen « , sagte Anni und erhob sich unsicher. » Auf Wiedersehen. « Sie wandte sich der Salontür zu.
» Anni, er liebt sie nicht. Er hat immer nur dich geliebt! «
Doch da schlug die Tür zum Salon schon zu.
21. August
Wir sind wieder in Astbury, das ich kaum noch als mein altes Zuhause erkenne. Die Arbeiter waren in unserer Abwesenheit fleißig; ich habe das Gefühl, mich in einem Luxushotel zu befinden, wenn ich den Salon oder das Speisezimmer betrete oder die Flure entlanggehe. Daran werde ich mich wohl gewöhnen müssen. Ich gebe zu, dass Vs Organisationstalent mich beeindruckt. New York war wunderbar, und Violets Familie und Freunde haben mich mit offenen Armen empfangen. Kein Wunder, dass sie so aktiv ist – die Stadt birst schier vor Energie. Dort herrscht vierundzwanzig Stunden am Tag eine Hektik, die London vergleichsweise betulich und langweilig erscheinen lässt.
Italien war so schön, wie ich es in Erinnerung hatte, und Violet hat zu unserer Unterhaltung jeden Abend Feste und Essenseinladungen gegeben. Sie ist wundervoll, alle himmeln sie an. Sogar Prinz Henry, der Sohn von König George, hat Zeit gefunden, ihre inzwischen allseits bekannte Gastfreundschaft zu genießen.
Sie wächst mir mehr und mehr ans Herz, weil ich ihre Bereitschaft zu lernen und ihren Lebenshunger höchst attraktiv finde, auch wenn sie mir das Gefühl gibt, ein alter Mann zu sein. Manchmal kann ich es kaum glauben, dass wir ungefähr gleich alt sind. Sie kommt mir vor wie ein hyperaktives Kind, das gleichermaßen beschützt und geleitet werden muss, und dass ich das kann, tröstet mich ein wenig. Noch habe ich sie nicht mit schlechter Laune erlebt. Sie packt alle Probleme voller Energie an. Kurzum: Viele der Ängste, die ich vor der Hochzeit hegte, sind verschwunden. Gott sei Dank scheinen die Geister der Vergangenheit endlich zu ruhen …
In der Bibliothek öffnete Donald am Schreibtisch einen Brief nach dem anderen von dem Stapel Post, der sich in den vier Monaten seiner Abwesenheit angesammelt hatte. Alle Rechnungen konnte er jetzt einfach Violet geben, die sie an ihren Vater weiterleitete. In dem Raum war es unerträglich heiß – zum ersten Mal öffnete er eines der alten Schiebefenster, um ein wenig Luft hereinzulassen. Violet hatte versuchsweise die neue Zentralheizung eingeschaltet, in der Luft lag der Geruch von frischer Farbe. Donalds Füße versanken in dem hohen Teppich, und den Kaffee trank er aus dem neuen Limoges-Porzellan. Alles im Haus war auf Komfort ausgerichtet, von den weichen Matratzen bis zu den Badewannen mit den glänzenden Goldarmaturen, aus denen zu jeder Tageszeit heißes Wasser kam. Als er sich wieder der Post zuwandte, erkannte er auf einem Brief Selinas Handschrift und öffnete ihn.
Pitt Street 21,
Kensington, London
15. August 1920
Liebster Donald,
ich hoffe, Du bist wohlbehalten von Deinen Reisen zurückgekehrt. Danke für Deine Postkarten von all den wunderbaren Orten, die Du besucht hast. Vielleicht findest Du, wenn Du wieder zu Hause bist, die Zeit, mich in unserem neuen Haus in Kensington zu besuchen, das bestimmt nicht so prächtig ist wie das frisch renovierte
Weitere Kostenlose Bücher