Die Mitternachtsrose
nicht voller Energie in ihre neue Leidenschaft gestürzt hätte.
Am letzten Abend, bevor wir in Southampton anlegen sollten, war das herrschaftliche Gefolge zum Diner am Kapitänstisch geladen. Indira schwankte die ganze Zeit zwischen der Frage, welches Kleid sie tragen sollte, und der Erkenntnis, dass dies die letzte Begegnung mit Prinz Varun sein würde. Ich verkniff es mir, Indira darauf hinzuweisen, dass Varun sie vermutlich sogar nackt als das gesehen hätte, was sie nach wie vor war: ein kleines Mädchen.
» Schau, Minty hat mir eins ihrer abgelegten Kleider gegeben! « Indira stürmte mit einem pfirsichfarbenen Chiffongewand über dem Arm herein. » Es passt wie angegossen. «
» Willst du das wirklich anziehen? « Ich musste an die züchtigen, hochgeschlossenen Musselin- und Kattunkleider denken, die wir sonst trugen.
» Ja! Anni, begreifst du denn nicht? Ich muss mich was trauen, damit Varun mich wahrnimmt! «
» Damit lässt Miss Reid dich nie zu dem Fest gehen! Außerdem: Was würde deine Mutter sagen? «
» In vier Monaten werde ich vierzehn. In dem Alter sind viele indische Mädchen schon verheiratet « , entgegnete Indira. » Anni, du musst mir helfen. Ich ziehe mich ganz normal mit dir an, und vor dem Speisesaal sage ich Miss Reid, dass ich was vergessen habe, laufe zurück und schlüpfe in dieses Kleid. Wie findest du den Plan? «
» Bitte, Indy, was wird dein Vater dazu sagen? Willst du ihn in Verlegenheit bringen? «, fragte ich entsetzt.
» Also wirklich, Anni! « Indira hielt sich das Kleid an den Körper. » Ich bin ja nicht in der Unterwäsche unterwegs. Es ist einfach nur eine erwachsenere Version dessen, was wir sonst tragen. «
Sie hatte recht. Immerhin wirkte das bodenlange Chiffonkleid mit dem eckigen Ausschnitt und dem knapp unter dem Busen gerafften Oberteil halbwegs züchtig.
» Das hat Minty zu ihrem sechzehnten Geburtstag getragen. So schlimm kann es also nicht sein, oder? «
Ich seufzte, weil ich wusste, dass ihr Entschluss, egal, was ich davon hielt, feststand.
Als wir uns am Abend mit Miss Reid dem Eingang zum Speisesaal näherten, schlug Indira die Hand vor den Mund.
» Ach, Miss Reid! Ich hatte Lady Alice Carruthers versprochen, ihr ein Buch zu leihen und es ihr heute zum Essen mitzubringen. Wenn das Schiff morgen anlegt, ist dazu bestimmt keine Zeit mehr. «
» Soll ich es für dich holen, meine Liebe? « , fragte Miss Reid.
» Nein, machen Sie sich keine Umstände. Ich weiß am besten, wo es ist. «
Indira rannte los und ließ Miss Reid und mich vor der Tür zum Speisesaal stehen.
Ich setzte mich in einen der goldverzierten Sessel auf dem Flur. » Miss Reid, ich warte hier auf sie. Sie haben noch nichts gegessen, und morgen wird ein langer Tag. Ich komme schon zurecht. «
» Wenn du meinst. So wie ich Indira und ihre Unordnung kenne, kann es eine Viertelstunde dauern, bis sie wieder da ist, und ich muss nach dem Essen noch packen. «
» Mir macht das wirklich nichts aus « , versicherte ich ihr, erleichtert darüber, dass sie unter Deck gehen würde, wo die Bediensteten ihre Mahlzeiten einnahmen. » Ich verspreche Ihnen, mich nicht von der Stelle zu rühren, bis sie wiederkommt. «
» Gut, meine Liebe, und danke. Ich hole euch um zehn ab. «
Es half, dass sie mich als die Vertrauenswürdigere von uns beiden erachtete; ich hatte mir ihr gegenüber kaum jemals etwas zuschulden kommen lassen. Während ich auf Indira wartete, verfolgte ich, wie die elegant gekleideten Gäste, die mit ausgeprägt britischem Akzent sprachen, den Speisesaal betraten. Da wurde mir klar, dass das Englisch, das ich in Indien gelernt hatte, sich vermutlich deutlich von dem unterschied, mit dem ich in England konfrontiert sein würde.
Als die letzten Gäste an mir vorbei in den Speisesaal flanierten, fürchtete ich schon, dass Indira es nicht mehr vor dem Dankgebet, das die Engländer vor jedem Essen sprachen, schaffen würde. Da schwebte eine Erscheinung in pfirsichfarbenem Chiffon die Treppe herauf.
Ich blinzelte ungläubig. Was für eine Veränderung! Das Kleid passte meiner Freundin mit ihrem hoch aufgeschossenen, schlanken Körper wie angegossen. Mit den hochgesteckten Haaren und der pfirsichfarbenen Rose darin war sie atemberaubend schön, eine jüngere Ausgabe ihrer Mutter.
» Wie seh ich aus? « , fragte sie mich nervös.
» Wunderschön. Komm! « Ich stand auf. Wir öffneten die Tür zum Speisesaal just in dem Moment, als der Conférencier in die Hände klatschte und
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