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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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wie er sich zur Ordnung rief. »Nein«, erwiderte er schnell und schlug die Augen auf. »Das ist nicht gerecht. Ich finde, wenn so etwas geschieht, dann ist der Mann mehr schuld als das Mädchen.«
    »Willst du etwa Hyperion die Schuld zuteilen?« Sie rückte von ihm ab. »Das erlaube ich nicht. In meiner Gegenwart wird von Hyperion nicht schlecht gesprochen, lass dir das gesagt sein. Hyperion ist kein Tier, das Frauen hinterhergiert und kaum die eine von der anderen kennt. Was wir getan haben, Hyperion und ich, das haben wir aus Liebe getan. Muss Liebe bestraft werden? Wenn Liebe nichts als falsch und sündig ist, weshalb hat Gott sie dann so unausweichlich gemacht?«
    Als sie den Kopf hob, traf sie sein Blick. Seine Augen waren voller Traurigkeit. »Das weiß ich auch nicht, Mildred«, sagte er. »Ich weiß nur, dass du ein guter Mensch bist. Wenn dir richtig erschien, was ihr getan habt, dann wird es auch richtig gewesen sein.«
    »Und was soll ich jetzt tun?«
    »Ich ginge zu Mrs Daphne«, sagte Victor. »Ich würde es ihr erklären, wie du es mir erklärt hast, und ich bin sicher, sie wird es verstehen. Sie wird froh sein, dich wiederzuhaben, Mildred. Ihr seid doch Schwestern.«
    Ja, wir sind Schwestern, dachte Mildred. So viel Unsinn er sonst schwatzte, erschien ihr das eine, das er gesagt hatte, treffend. Sie musste mit Daphne sprechen. Im ersten Schrecken hatten sie beide Dinge gesagt, die sie unmöglich ernst meinen konnten, doch was zählten Worte, was zählte ein unbedachter Augenblick gegen die Jahre, in denen sie einander alles gewesen waren? Ihr Problem ließ sich nicht aus der Welt schaffen, aber gab es keinen Weg, sich ihm gemeinsam zu stellen? Sie mochten beide ihre Liebe verlieren, wenn es denn wahr war, dass auch Daphne Hyperion liebte und nicht nur nach Kinderart von Liebe träumte, aber dass sie obendrein einander verloren, war zu viel.
    Wir können unseren Schmerz teilen, wie wir alles geteilt haben. Wir können auch die Kinder teilen. Der Junge mit seinem Temperament ist gut an meinem straffen Zügel aufgehoben so wie das schwache Mädchen in Daphnes sachter Hand. Mildred riss sich zusammen und setzte sich auf. Bei dem Versuch spürte sie die bleierne Müdigkeit, die sie in die Kissen zwingen wollte. Für das Gespräch mit Daphne würde sie wach sein müssen. »Ich bin erschöpft«, sagte sie. »Ich muss mich ausruhen.«
    »Allein, Mildred?«
    »Ja. Allein. Fährst du mich nachher nach Mount Othrys?«
    »Natürlich«, erwiderte er. Sie rollte sich zusammen, er zog ihr die Decke bis ans Kinn und schloss den Fensterladen. »Schlaf dich aus.«

    Am frühen Abend, als sie in seinem zugigen Wagen aufbrachen, fiel in dichten Schwaden Schnee. Mildred wickelte sich in den Mantel, den Victor ihr gekauft hatte. Zwar hatte sie geschworen, das hässliche Ding nie zu tragen, doch gegen die Kälte war es eine Wohltat. Es kam ihr vor, als hätte sie in ihrem Leben nie so gefroren wie in diesem Winter. Zweimal stellte Victor ihr eine Frage, dann begriff er, dass sie nicht reden wollte, und schwieg.
    Mount Othrys zu sehen versetzte ihr einen Stich. So still lag ihr Haus, wie verlassen, hinter den Scheiben brannte kein Licht, und es war doch Advent und jemand hätte mit Louis bei Mince Pies und Tee sitzen sollen. War niemand zu Hause? Aber Daphne war ja zu schwach, um auszugehen, ihr Knochenbruch war schlecht verheilt und ihre Blutarmut schlimmer denn je. Wie auch immer, erfahren würde sie nur etwas, wenn sie das Haus betrat. »Möchtest du, dass ich mit dir komme?«, fragte Victor scheu.
    »Um Gottes willen!«, rief Mildred. »Ich kann doch dich nicht mit nach Mount Othrys nehmen.«
    Die Geste, mit der er Kopf und Schultern wie unter einem Schlag duckte, hatte sie schon häufig an ihm wahrgenommen. Unterwürfig, fand sie. Rückgratlos. »Soll ich hier auf dich warten?«
    Sie nickte. »Es kann lange dauern.«
    »Mach dir um mich keine Sorgen«, murmelte er.
    Sie machte sich um ihn keine Sorgen. Von dem Moment an, in dem sie vor dem Tor von Mount Othrys aus der Kutsche stieg und bis zum Knöchel im Schnee versank, war es, als hätte er aufgehört zu existieren. Stattdessen begann ihr Herz zu rasen. Schlug es um Daphnes willen so hart und hoch? Mildred schloss das Tor auf und ging den ersten Schritt auf das Haus zu. Ein wenig Schnee zierte das Fries mit dem sterbenden Titanen, und unwillkürlich dachte sie, dass der Nackte doch frieren musste. Wie töricht das war, aber das, was sie empfand, während sie weiter

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