Die Mondrose
und spielte so hingebungsvoll mit seinen Tieren wie zuvor. Daphne sah ihm zu. Sie strengte sich nicht länger an, die Tränen zurückzuhalten, sondern ließ sie laufen. An die Tanne dachte sie, die im Salon darauf wartete, dass sie Geschenke für ihren Jungen in die Zweige hängte, und danach an den Frühling, an den Duft der Kirschblüten und das lange Gras, durch das ihr Kind auf seinen festen, stampfenden Beinchen gelaufen war. Auch an den Sommer, an ihre Picknicks am Strand, vier bloße Füße, die in die flache Gischt des Meeres hineingelaufen waren, an die gerade erst reifen Äpfel, die sie geteilt hatten, und an ihre Lieder. Lavendel ist blau, dilly dilly. Als Louis sich umdrehte und sie fragte, warum sie weine, lächelte sie und erklärte, so sei es eben. Wer auf eine Reise gehe, der müsse weinen, um Abschied zu nehmen, ehe er bereit sei, sich auf den neuen Ort zu freuen.
Sie ließ ihn spielen, während sie ihren Brief schrieb. An Hyperion und Mildred gemeinsam. Sie wollte nichts schreiben, das Schmerz bereitete, nur ihnen beiden für ihre Liebe danken, für ihre Fürsorge und ihr Opfer, das jetzt ein Ende haben würde. Den letzten Abschnitt schrieb sie an Hyperion allein. »Quäle Dich nicht, mein Liebster, wenn ich Dich bei diesem Namen noch einmal nennen darf. Ich weiß, es ist Deine Natur, Dir für das Leid der Welt die Schuld zuzusprechen, doch ich bitte Dich: Sprich Dir für mein Leid nicht die Schuld zu. Du bist ein guter Mensch, Hyperion, der beste, den ich je gekannt habe, und wen wir lieben, liegt nicht in unserer Hand. Nicht einmal in Deiner. Ich danke Dir für das Glück, das Du mir geschenkt hast. Es war das Schönste in meinem Leben.«
Louis war zu ihr gekrochen und sah zu, wie die Buchstaben sich auf dem Papier formten. Er war so klug, seinem Alter so weit voraus. Gewiss hätte er bald lesen lernen wollen. Sie faltete den Bogen, ohne die Tinte zu löschen, und schob ihn in einen der zartblauen Umschläge, die Hyperion ihr geschenkt hatte. »Bist du bereit, kleiner Louis?«, fragte sie.
»Bereit, kleine Mutter!«, rief er voller Vorfreude.
»Dann komm.«
Als sie sich erhoben, sprang auch der kleine Hund auf die Beine und tollte ihnen hinterdrein. Daphne weinte unentwegt weiter, und in ihrer Brust wühlte brennender Schmerz, aber sie wusste, sie würde dieses Mal nicht umkehren oder nach jemandes Hilfe rufen. Dieses eine Mal würde sie stark genug sein.
Kapitel 21
Advent
S ie verachtete ihn. Er war ein Navvy ohne Manieren, sein Haus war ein Exempel des schlechten Geschmacks, und sein zu breiter, zu muskelbepackter, viel zu männlicher Körper machte sie nervös. Dennoch musste Mildred eingestehen, dass nie ein Mensch so gut zu ihr gewesen war wie Victor März und dass sie sich nie irgendwo so beschützt und umsorgt gefühlt hatte wie in seiner Obhut.
Er schirmte sie ab. Er brachte ihr, was immer sie sich wünschte, Wein, bis sie schlafen konnte, dampfende Brühe, um ihr die Kräfte zu erhalten, Decken, wenn ihr die Zähne klapperten. Solange sie wollte, blieb er bei ihr, sprach oder schwieg mit ihr, und sobald sie ihn fortschickte, ging er ohne Widerspruch. Ihr Zimmer war das bequemste im ganzen Haus. Es besaß einen großen Kamin und Fensterläden, durch die die Welt sich ausschließen ließ. Am Abend des vierten Tages, als alles, was geschehen war, mit ganzer Gewalt auf sie einstürzte, bat sie ihn, bei ihr zu bleiben, weil sie das Alleinsein mit den eigenen Gedanken nicht ertrug.
In seinen Armen weinte und redete und schlief sie, schreckte immer wieder auf und redete weiter, und er zog die Decken fester um sie und sang ihr leise ein paar Zeilen von seinem Lied. Als endlich der Morgen graute, fragte sie ihn: »Was soll ich nur tun? Muss ich damit leben, dass ich sie beide verloren habe, muss denn ich allein für alles büßen?«
»Willst du hören, was ich dazu denke?«, fragte er sacht.
»Wozu habe ich dich sonst wohl gefragt?«, fauchte sie ihn an, und dann durchfuhr sie ein Anflug von Dankbarkeit, weil er es ihr erlaubte, all den Schmerz und den Zorn an ihm auszulassen. Sie hob die Hand und strich ihm flüchtig über die Wange. Er hielt ganz still, schloss halb in Träumen die Lider. Sie musste daran denken, wie Hyperion manchmal in ihren Armen still gelegen hatte, erschöpft von der Liebe und erfüllt vom Sehnen, und von neuem bildete sich ein Knoten in ihrem Hals. »Sag mir, was ich tun soll«, krächzte sie. »Ist es gerecht, dass ich allein bestraft bin?«
Sie konnte sehen,
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