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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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hatte, endeten sie in einem kleinen Gasthaus nicht weit von der Gewürzinsel. Victor bestellte französischen Wein, und als der Wirt bedauernd erwiderte, er habe keinen im Haus, schickte er ihn mit barschen Worten los, um welchen zu kaufen. Taten das alle Menschen, selbst Victor? Einen anderen treten, wenn sie getreten worden waren?
    Nachdem der Wein serviert worden war, fand er jedoch zu seiner Ausgelassenheit zurück. In schönsten Farben malte er ihr aus, wie er den neu erworbenen Flügel der Pension umgestalten wollte, wie aus dem tristen Innenhof ein blühender Garten zum Flanieren und Verweilen werden sollte, wo er eine Terrasse und einen Wintergarten anzubauen hoffte, und was für Personal nötig wäre, um den Gästen jeglichen Komfort zu bieten. Sukie erschien sein Gerede wie ein Märchen, von dem kein Wort sich je als wahr erweisen würde. Sie gehörten einer Klasse an, die man selbst in ihren besten Kleidern in keinem guten Restaurant zu sehen wünschte. Wie sollten sie ein Hotel leiten, in dem eben diese Leute, die über sie die Nase rümpften, Urlaub machten?
    »Natürlich wird es Jahre dauern«, sagte Victor. »Aber wir haben auch Jahre Zeit, oder nicht? Nur eines kann nicht länger warten, es hat schon viel zu lange gewartet und muss endlich getan werden. Ich habe dir nie von meiner Schwester Annette erzählt, nicht wahr? Ich will es jetzt tun, Sukie. Ich glaube, wenn ich je einen Freund hatte, dann bist du es, und deshalb will ich, dass du von Annette weißt.«
    Sein Ton änderte sich, wurde starr, fast ausdruckslos. Zwischen den Sätzen trank er Wein, wie er neulich den Brandy in sich hineingeschüttet hatte, und während der gesamten Erzählung sah er den Tisch an, als läse er die Worte von dort ab. Annette war seine jüngere Schwester, die er nach dem Tod seiner Eltern umsorgt und behütet hatte. Kaum war er in die Lehre getreten, hatte er sie aus dem Waisenhaus zu sich geholt. »Wir waren lachhaft bescheiden«, sprach er hinunter auf den Tisch. »Hätte man uns nur die Kammer, um darin zu hausen, gelassen und das bisschen, was wir zum Essen brauchten, wir wären glücklich gewesen.«
    So wie ich, dachte Sukie. Hätte Hector Weaver mich nicht mit seinen dreckigen Händen zur Hure gemacht, ich hätte meine Arbeit getan und nichts weiter verlangt.
    Hector Weaver aber hatte sie zur Hure gemacht, und die hohen Herren hatten Victor und seiner Schwester ihre Kammer und ihr bisschen Glück nicht gelassen. Er war im Gefängnis gewesen. Während er tonlos weitererzählte, umfasste sie sein Gelenk und streichelte die geschwollene Ader, in der sein Leben pochte. Als er seine Strafe abgesessen hatte und zu seiner Schwester nach Hause gehen wollte, wohnte in dem kleinen Zimmer ein anderer und Annette war nicht mehr dort. Sukie glaubte die Einsamkeit, die ihn befallen haben musste, am eigenen Leib zu spüren. Es war die Einsamkeit von jenem Abend, als Hector Weaver sie aus seinem Haus geworfen hatte, ehe Victor gekommen war, um ihr zu helfen. Ihm selbst aber hatte niemand geholfen. So sehr er bettelte, fluchte und drohte, man hatte ihm nicht erlaubt, Annette wiederzusehen.
    Er zog ihr die Hand weg und stützte seinen Kopf darauf. Sie beugte sich vor und streichelte sein Gesicht. Sie las gern Romane, die in einzelnen Folgen in Zeitungen erschienen, und wenn dem Helden ein unverdientes Leid widerfuhr, weinte sie heimlich in ihr Taschentuch. Auch wenn sie von traurigen Schicksalen las – Frauen, denen ihre Kinder am Hunger starben, junge Liebende, die widrige Umstände trennten –, kamen ihr die Tränen. Sie war nah am Wasser gebaut, wie man sagte, doch noch nie hatte ihr ein Mensch so leidgetan wie der Mann, der vor ihr saß. Sie wollte ihm den Schmerz abnehmen und selbst tragen, sie wollte ihn wissen lassen, dass die Qual seiner Einsamkeit vorbei war, dass sie bei ihm bleiben würde, solange er es ihr erlaubte.
    Endlich hob er den Kopf. Seine schwarzen Wimpern glänzten. »Bitte verzeih mir«, sagte er. »Du bist immer so nett zu mir, Sukie.«
    »Ich tue das gern für dich«, sagte Sukie und streichelte ihn weiter. »Ich tue alles gern für dich.«
    »Ich werde es dir vergelten, das verspreche ich.«
    Dazu bräuchtest du nicht wieder mit deiner Aufschneiderei vom Grandhotel anzufangen. Du bräuchtest nicht mehr, als den Kopf zu neigen, so nahe zu mir, dass ich dich auf die Lippen küssen kann.
    »Sag, kennst du dich aus? Weißt du vielleicht, wie man vorgeht, wenn man jemanden suchen lassen will?«
    »Wenn man

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