Die Mondrose
dem der Herr des Hauses aus London zurückerwartet wurde, setzten bei Mildred die Wehen ein.
Sie hatte Georgia, die ein ungewöhnlich schweres Kind gewesen war, innerhalb von drei Stunden geboren. Bei den ersten Schmerzen, die waren, als wollte der Kopf des Kindes sie von innen zerreißen, hatte sie sich gefragt, wie die zerbrechliche Daphne diese Tortur überlebt hatte, aber mit der nächsten Wehe hatte sie sich darauf konzentriert, das Kind aus sich hinauszupressen, und damit war der Schmerz erträglich geworden. Sie war entschlossen, es diesmal auf dieselbe Weise hinter sich zu bringen, und dennoch würde dieses Mal etwas Besonderes sein. Als sie schweratmend das Altenteil betrat, das sie noch immer so nannten, obwohl schon bald ein Jahr die Familie darin lebte, fragte Priscilla, ob sie einen Arzt rufen solle, aber Mildred lehnte ab. »Nur den Herrn schick mir, sobald er heimkommt«, wies sie das Hausmädchen an.
Für einen Arzt zum Gebären würde sie kein Geld vergeuden, niemand in Whitechapel hätte dazu einen Arzt gebraucht. Sie stieg aufs Bett, drehte sich auf den Rücken und kämpfte mit angewinkelten Beinen mit den Wehen. Das Bett war zu groß für das kleine Zimmer, aber sie hatte eines gewollt, das Hyperion mit ihr teilen würde, nachdem der Sohn geboren war. Einmal hatte sie von jener schwarzen Nacht auf dem Meer geträumt, war vor Entsetzen aus dem Schlaf geschnellt und hatte einen Vorwand erdacht, um zu ihm hinüberzulaufen. Seine Tür war verriegelt gewesen, und auf ihr Klopfen war keine Antwort erfolgt.
In jener Nacht hatte sie die Sache auf sich beruhen lassen, doch wenn die Schwangerschaft überstanden war, würde sie ihn zu sich holen. Gewiss saß ihm noch in den Knochen, was ihn in der Zeit mit Daphne gequält hatte – die Angst, mit einer weiteren Schwangerschaft seiner Frau den Tod zu bescheren. Eine Angst, die du in ihm geschürt hast, wisperte eine Stimme in ihrem Kopf, während eine Wehe wie eine Welle anrollte und sich ihr in den Leib wühlte. In dem kurzen Augenblick, in dem der Schmerz den Raum um sie verschwimmen ließ, sah sie Daphnes Gesicht vor sich und hörte ihre Stimme, die flehte, man möge ihren Mann zu ihr lassen, ihr Mann werde ihr niemals schaden, und sie vermisse ihn. So deutlich glaubte sie Daphne zu hören, dass sie selbst laut schrie: »Geh weg, zum Teufel! Lass mich allein!«
Dann ebbte die Wehe ab, Mildred kam zu sich und schüttelte sich, um Bild und Stimme loszuwerden. Sie versuchte an Hyperion zu denken, an sein geliebtes Gesicht, das vor Freude leuchten würde, wenn sie ihm seinen Sohn in die Arme legte, an das Leben, das dem Haus bevorstand, frei von Geldsorgen und geprägt von Kinderlachen, derweil die quälende Erinnerung allmählich verblasste. Die nächste Wehe kündigte sich durch leichtes Ziehen, das sich rasend steigerte, an. Mildred sah Daphne und Louis an der Treppe stehen, zwischen ihnen der Picknickkorb, auf ihren Gesichtern die Sommersonne, die durchs Fenster fiel. Der Schmerz drängte ihr das Becken auseinander, ihr wurde schwarz vor Augen, und in die Schwärze ragte Louis’ Hand, die den angebissenen Apfel hielt. »Nimm mir doch meinen Mann und mein Kind nicht weg!«, schrie Daphne, und Mildred schrie auch, so laut, dass Priscilla an die Tür klopfte. »Ich rufe jetzt den Arzt, Madam.«
»Geh weg!«, schrie Mildred, während die Wehe ihren Griff um sie löste und verebbte. »Ich brauche keinen Arzt«, rief sie hastig hinterher, während sie auf das Bett zurücksank. Durch den kurzen Gang entfernten sich Priscillas Schritte.
Wie lange die Folter dieser Geburt dauerte, wusste sie nicht, jedes Zeitgefühl hatte sie verlassen. Nicht die Schmerzen trieben sie über ihre Grenzen und versetzten sie in helle Panik, sondern die Bilder, die sie auf dem Zenit jeder Wehe sah, die Stimmen, die sie hörte, und die Hände, die nach ihr griffen. Zuletzt sah sie sich und Victor wieder in dem Boot, vor sich der zugeschnürte Sack und um sich die schwarze, windige Nacht. Keine Stimme hörte sie mehr, sondern das Plätschern, mit dem die Ruderblätter ins Wasser schnitten, und dann den saugenden Laut, mit dem das Meer den Sack verschlang. Sie presste sich die Hände auf die Ohren. Als sie es nicht mehr ertrug, brüllte sie nach Priscilla. »Hol den Arzt!«, schrie sie in das Gesicht, das sich über sie beugte, wild vor Angst um ihr Leben. Erst als das Gesicht sich entfernte, begriff sie, dass es nicht Priscilla, sondern Nell gehörte, doch selbst das war ihr
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