Die Mondrose
werfen und erkennen, dass er das andere nicht brauchte – weder die besessene Suche nach der verschollenen Schwester noch die viel dunklere Besessenheit von Mildred Adams –, dass alles Glück, was ein Mann sich wünschen konnte, in seiner Familie lag?
Er beugte sich über sie, warf einen Blick auf das Kind und sagte: »Du hast es sehr gut gemacht, Sukie. Es muss hart gewesen sein.«
»Nicht so hart, wie man sagt«, erwiderte sie und versuchte sich an einem Lächeln. »Der Junge war es wert.«
Victor warf noch einen raschen Blick auf das Kind und murmelte: »Ja. Ja, natürlich. So ein Kleines ist es ja wert.«
Als sie ihn fragte, ob er einen Wunsch für seinen Namen habe, überlegte er lange und antwortete dann zögernd: »Vielleicht Ferdinand?«
»Ist das ein Verwandter von dir?«, fragte sie voll Hoffnung. »Dein Vater oder ein Pate?«
Er schüttelte den Kopf. »Es war ein Mann, der in Deutschland einen Verein gegründet hat, um für die Rechte der Arbeiter zu kämpfen. So wie wir es einst wollten, aber es scheint, wir haben es falsch angepackt, während dieser Mann es richtig gemacht hat. Oder die Zeit ist jetzt reif und damals war sie es nicht. Auch hier soll ja künftig den Arbeitern das Wählen erlaubt sein, solange sie über ausreichend Einkommen verfügen.«
Es war kaum zu ertragen, sie hatte ihm einen Sohn geboren, und er redete von irgendwelchen Arbeiterrechten am anderen Ende der Welt.
»Versteh mich nicht falsch«, sagte er.
Dann erklär mir, wie ich dich richtig verstehe.
»Ich habe mit alldem ja nichts mehr zu tun, ich kämpfe für mich selbst, und die Rechte der Arbeiter können mir gestohlen bleiben. Aber vielleicht ist es für den Kleinen nicht schlecht, den Namen von diesem Ferdinand Lassalle zu tragen. Vielleicht gibt es ihm etwas von seinem kämpferischen Geist.«
Es war sinnlos, weiterzuhoffen, aber Sukie konnte sich nicht hindern. Als er den Korb und die Schachtel mit den Zinnsoldaten auf den Nachttisch stellte, griff sie nach seiner Hand. »Wirst du ihn lieben, Victor? Wirst du ihm ein Vater sein?«
Zum dritten Mal warf Victor einen Blick auf das Kind. Lüg mich an, fuhr es Sukie durch den Kopf, doch ihr stummes Flehen wurde nicht erhört.
»Ich werde immer für ihn sorgen«, sagte Victor und strich ihr fahrig über den Kopf. »Und für dich auch. Das verspreche ich dir.«
»Warum nicht?«, schrie sie ihn an. Sie wusste, sie würde ihn nie wieder fragen, nur dieses eine Mal, weil sie nach der Anstrengung der Geburt keine Kraft mehr hatte, die Frage zu schlucken. »Warum kannst du uns nicht lieben, warum zählt nicht, was ich für dich bin, sondern nur, was ich ein paar Wochen lang war?«
Noch einmal strich er ihr übers Haar und stand dabei schon auf. »Es zählt doch nicht, was du warst«, sagte er. »Für mich bist du eine Dame, feiner und nobler als eine, die die Nase hoch trägt und hofft, durch Überheblichkeit vergessen zu machen, aus welchem Dreck sie stammt. Es liegt nicht an dir. Ich kann niemanden lieben, nur Annette, und dass ich sie nicht finde, bringt mich um den Verstand.«
Sie sagte nichts, und er sagte auch nichts, bis er an der Tür stand und sich abrang: »Ich muss jetzt gehen.«
Sukie nickte. Als er sie am nächsten Tag fragte, unter welchem Namen er den Jungen auf dem Standesamt eintragen lassen solle, kritzelte sie auf einen Zettel: Charles Ferdinand. Charles war der Name ihres Vaters, mit dem sie sich nie verstanden hatte, aber sie fand, ihr Sohn habe mehr verdient als den Namen irgendeines Ausländers, als wäre er nichts wert und würde keiner Familie angehören.
Kapitel 26
Portsmouth, Januar 1868
H yperion schlug den Mantelkragen bis an die Wangen hoch, doch das hielt Kälte und Nässe nicht ab. Es gab wenig Schnee in diesem Winter, dafür umso mehr Regen und Wind, Tage, die nicht hell wurden, sondern von grauer Düsternis in schwarze Düsternis hinüberstarben. Bei jedem Schritt sank er bis zu den Knöcheln in schlammigen Grund. Hier draußen, hinter den Mauern der Garnisonsstadt, wo die letzten verstreuten Häuser sich verloren, verriet das sumpfige Land noch, dass Portsmouth eine ins Meer hineingebaute Stadt war und dass man einst durch Furten hatte waten müssen, um sie zu erreichen.
Ein einzelnes schwaches Licht glomm durch Schwärze, ein wenig Feuerschein, der durch ein Fenster fiel, ohne Wärme zu versprechen. Das Gasthaus, das in vergangenen Jahrhunderten Durchreisenden Obdach geboten hatte, diente jetzt dunkleren Zwecken, doch für
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