Die Mondrose
habe auch ich es nötig, dass Sie trinken«, erwiderte Wolfe. »Ich muss Ihnen sagen, was ich denke, und der Gedanke, dass Sie es in nüchternem Zustand hören, verursacht mir Übelkeit.«
»Sagen Sie es«, versetzte Hyperion und nahm das Glas. Der hochprozentige Alkohol roch tatsächlich nach Medizin und schmeckte auch so.
»Ich denke, Ihre Frau und Ihr Kind sind tot«, sagte Wolfe.
Hyperion musste schnell schlucken, um das Getränk nicht von sich zu geben. Sie waren tot vor dem Gesetz. Er selbst hatte vor dem Standesbeamten zu Protokoll gegeben, dass er Daphne Rose Weaver und Louis Fergus Weaver für tot hielt. Aber wirklich für tot gehalten hatte er sie nie. Von allen Möglichkeiten war diese eine nie in Frage gekommen.
»Kein Mensch hat gesehen, wie sie die Stadt verließen. Keinem Menschen haben sie anvertraut, wo sie hinwollten, und bei keinem Menschen sind sie angekommen. Ich war in Whitechapel, ich habe die Eltern Ihrer Frau ausfindig gemacht. Ihre Mutter lebt nicht mehr, und ihr Vater hat seit Jahren nichts von seinen Töchtern gehört. Ihre Frau hatte kein Geld bei sich. Sie hätte jemanden um Hilfe bitten müssen, und diesen Menschen hätte ich über kurz oder lang aufgetrieben. Meine Vermutung, dass sie nicht weit gekommen ist, sondern sich in einem der umliegenden Dörfer aufhält, hat sich nicht bestätigt. Niemand weiß von ihr oder dem kleinen Jungen. Von allen Verschwundenen findet sich früher oder später eine Spur, selbst dann, wenn der Vermisste nicht gefunden werden möchte. Wenn es so wie bei Ihrer Frau keine einzige Spur gibt, lässt das nur einen Schluss zu: Wir können Ihre Frau nicht finden, weil sie nicht mehr am Leben ist.«
Hyperion war jetzt froh, den Absinth getrunken zu haben, denn anders hätte er die Frage nicht stellen können. Und er musste sie stellen. Sie hämmerte in seinem Kopf. »Wenn Daphne und Louis tot sind – wo sind dann ihre Leichen?«
»Die Frage ist berechtigt«, erwiderte Wolfe. »Ich könnte ihr nachgehen, aber es wäre nicht, was Sie wollten.«
»Ich will, dass Sie weiter für mich arbeiten«, sagte Hyperion. »Wenn Sie nach zwei Toten suchen, soll mir das recht sein, weil ich sicher bin, dass sie zwei Lebende finden werden.«
»Mir kommt es vor, als würde ich Ihren Kummer ausnutzen«, sagte Wolfe. »Nun gut, weil Sie es so sehr wünschen, werde ich die Suche gegen meine Überzeugung fortsetzen. Ihr Geld aber werde ich nicht länger nehmen.«
Die Ausgabe, die er vor Mildred geheim hielt, einzusparen wäre eine Erleichterung gewesen. Dennoch widersprach er: »Sie können unmöglich diesen Aufwand ohne Entlohnung betreiben. Wovon wollen Sie denn leben?«
»Nun, einer jener seltsamen Zufälle, die das Leben uns hinwirft, will es, dass man mir einen anderen Fall in dieser Gegend übertragen hat. Ich denke, ich kann immer dann in Ihrer Sache ermitteln, wenn ich ohnehin hier unterwegs bin. Und wissen Sie, was ich noch denke? Dass Sie mir bei der Suche nach der anderen Person sozusagen im Gegenzug behilflich sein könnten. Es ist nämlich denkbar, dass Sie diese Person gesehen haben oder dass Sie jemanden kennen, der sie gesehen hat.«
Hyperion hatte von keinem anderen Fall etwas hören wollen, er wollte, dass es für Wolfe wie für ihn keinen anderen Fall gab. Jetzt aber packte ihn die Neugier. »Weshalb sollte ausgerechnet ich sie gesehen haben – wer ist denn diese Person?«
»Sie ist nicht hier geboren«, antwortete Wolfe. »Eine Ausländerin, darin besteht die Schwierigkeit. Ich habe Wochen gebraucht, um herauszufinden, wann sie in England angekommen ist. Anschließend ist sie wohl in eine Unterkunft für Emigranten gezogen, in der es ihr nicht sonderlich gut ergangen ist.«
»Sagen Sie nicht, in Milton’s Court.« Hyperion stöhnte. Noch immer hatte er die Mahnungen seines Doktorvaters im Ohr. Die Epidemien, die sich von Milton’s Court aus verbreitet hatten, hätten sich eindämmen lassen, wenn er mit Hector gesprochen hätte, statt tatenlos zuzusehen. Er war unendlich erleichtert gewesen, als ihm zu Ohren kam, sein Bruder habe Milton’s Court aufgegeben und es dem sanftmütigen Deutschen, Victor März, überlassen.
»Milton’s Court«, sagte der Detektiv. »Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund.«
»Es ist möglich, dass Sie mich verwechseln«, erklärte Hyperion eilig. »Das Emigrantenheim gehörte meinem Bruder, nicht mir. Vielleicht sollten Sie mit ihm sprechen? Er hat das Geschäft allerdings inzwischen aufgegeben.«
»Oh, das ist mir
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