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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Hyperions Vorhaben war der Ort geeignet wie kein zweiter. In diese Gegend, nach Sudewede, wo Schmuggler, Huren und Ganoven hausten, würde Mildred sich im Leben nicht verirren, so wie sie niemals nach Whitechapel fahren würde.
    Wo er sich die Schuhe verdorben hatte, würde sie ihn allerdings fragen, nagelneue Halbstiefel aus weichem Leder, die sie ihm gekauft hatte, weil er so abgerissen, wie er herumlief, die ganze Familie blamierte. Sie würde außer sich sein. Wenn sie ihn ausschimpfte, hatte er zuweilen das Gefühl, in seine Kindheit zurückzusinken und vor seiner Großmutter zu stehen, die ihn zusammenstauchte, weil ihm dieses oder jenes missglückt war. Nur hatte die Großmutter stets darauf geachtet, bei der Abstrafung mit ihm allein zu sein, während es Mildred einerlei war, ob die drei kleinen Mädchen dabei waren.
    Es gibt noch einen Unterschied, dachte Hyperion. Damals tat es mir weh, weil ich mir so sehr wünschte, alles richtig zu machen, und verzweifelte, wenn es mir wiederum misslang. Heute perlte Mildreds Geschimpf an ihm ab wie Regen an Entengefieder, weil ihm schon alles misslungen war. Welche Untat er jetzt auch beging, sie wog nichts gegen die namenlose Untat, die er schon begangen hatte. Auch die Predigt wegen der verdorbenen Schuhe würde er gleichgültig über sich ergehen lassen, und dennoch verschwieg er ihr, wen er hier draußen traf. Er wollte nicht mit ihr darüber sprechen, es gehörte ihm allein, war das Letzte, was ihm allein gehörte.
    Der Funke Hoffnung.
    Durchgefroren stieß er die Tür des Gasthofs auf. Der Schankraum war vernebelt vom Rauch, wenngleich nur halb gefüllt. Durch die Schwaden sah er seinen Gast, der bereits an dem Tisch saß, an dem Hyperion ihn bei früheren Treffen empfangen hatte. Als er das erste Mal vorgeschlagen hatte, dieses Etablissement aufzusuchen, hatte der andere gelacht. »Offen gestanden hätte ich von Ihnen nicht erwartet, dass Sie Detektivromane lesen, die in dunklen Spelunken spielen«, hatte er gesagt.
    Hyperion mochte den Mann. Es war nicht der, den er sich gewünscht hatte, aber einer, den dieser ihm empfohlen hatte und der ausschließlich Aufträgen von Privatpersonen nachging. Der Beruf des Detektivs, des Ermittlers, der durch seine Klugheit Verbrechen aufklärte und verstreute Puzzleteile zusammenfügte, war noch jung, und doch schien das Land sich in einer Art Detektivfieber zu befinden. Romane, in denen ein solcher Mann die Hauptrolle spielte, erschienen in steter Folge in den Zeitungen. Hyperion allerdings hatte nie einen gelesen. Für ihn gab es nur ein Rätsel, das er gelöst sehen wollte, das Rätsel, um das sein Leben kreiste, und das taugte für keinen Roman.
    Sie begrüßten einander geradezu freundschaftlich. Gleich darauf, noch im Setzen, sagte der Detektiv, der Wolfe hieß und in Hyperions Alter war: »Ich lasse Sie besser sofort wissen, dass ich Sie wiederum enttäuschen muss. Alle Spuren, über die wir das letzte Mal sprachen, führten ins Leere. Wenn ich ehrlich sein soll, gibt es jetzt kaum noch eine, die Erfolg verspricht.«
    »Heißt das, Sie geben den Fall auf?«, fragte Hyperion und hatte das Gefühl, ihm werde die Luft zum Atmen entzogen.
    »Es heißt, ich rate Ihnen, ihn aufzugeben, ja«, erwiderte der Detektiv. »Ich habe gern für Sie gearbeitet, und ich habe auch bis zum Schluss daran geglaubt, dass Ihre Frau und Ihr Sohn zu finden sind. Jetzt aber glaube ich nicht mehr daran. Ich möchte nicht, dass Sie Ihr Geld verschwenden. Noch weniger möchte ich, dass Sie Ihre Kraft und Ihre Hoffnung verschwenden.«
    »Aber sie müssen doch zu finden sein!«, rief Hyperion. »Eine Frau und ein lebhaftes Kind können ja schlecht vom Erdboden verschluckt sein, ohne dass irgendein Mensch sie gesehen hat.«
    »Wollen Sie nicht etwas trinken?«, fragte Wolfe. »Warum lassen Sie mich nicht von der Bar etwas holen?«
    Ehe Hyperion ablehnen konnte, war er gegangen und kehrte mit zwei hohen, mit grünlichem Getränk gefüllten Gläsern und einem Wasserkrug zurück.
    »Was ist das?«
    Wolfe lächelte. »Absinth. Passt zu Ihren Detektivromanen und irgendwie zur Örtlichkeit.«
    »Das trinke ich nicht. Ich bin Arzt.« Er hatte Absinth-Opfer behandelt. Der bittere, mit Anis versetzte Wermut führte zu Sucht, Verelendung und Tod.
    Der Detektiv lächelte immer noch. »Medizin schadet auch, wenn man sie in hohen Dosen zu sich nimmt. Einmal eingenommen, kann sie jedoch Wunder wirken.«
    »Und Sie meinen, ich habe Medizin nötig?«
    »Vielleicht

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