Die Mondrose
Fluchtweg ab. Abrupt blieb sie stehen und sah ungläubig zu ihm auf.
Victor März. Wie lange hatte sie ihn nicht gesehen? Obwohl das Licht des Kronleuchters mit blendender Kraft von der Decke herabprallte, schien es auf einmal dunkel, und im Saal breitete sich eine Kälte aus, die Mildred frösteln ließ. Dezemberkälte. Schneeregen. Wie winzige Eiszapfen waren ihr die Tropfen in den Nacken gefallen, und noch kälter erschienen ihr die Tränen, die ihr übers Gesicht strömten, als wollten sie nie mehr versiegen. »Ist ja gut, mein Kleines«, rief ihr Victor, der ebenfalls weinte, durch den tosenden Wind zu. Immer wieder, mit jedem Schlag der Ruderblätter, die durch die Schaumkronen schnitten. »Ist ja gut.«
Irgendwie gelang es ihnen, das Boot ans Ufer zurückzurudern, obwohl sie blind vor Tränen waren. Victor wickelte sie in seinen Mantel, schloss den Arm um sie und führte sie über den Deichhügel zu seinem hinter Bäumen verborgenen Wagen. Er hielt sie fest bis zum Morgen. Wickelte sie in Decken, flößte ihr Tee mit Rum ein, weinte mit ihr und sang ihr sein Lied, bis sie sich in der eisgrauen Morgenkälte aufrappelte und vor den Waschtisch trat, um sich die verschwollenen Augen zu kühlen.
Einen Moment lang hatte sie sich gewünscht, bei ihm zu bleiben, in seinen Armen, die sie vor allem Bösen schützten. Sich in seinem Haus zu verbergen und ihr eigenes Haus nie mehr zu betreten, ihr Haus, in das im Lauf der nächsten Tage die Bewohner zurückkehren würden – die alte Nell, das schwächliche Kind, die Dienstboten und Hyperion. Halt mich fest, hatte sie zu Victor sagen wollen, schließ alle Türen ab, und wenn jemand nach mir fragt, schick ihn weg.
Stattdessen spritzte sie sich Wasser ins Gesicht und sagte: »Ich muss gehen.« Sie war sicher, dass es das Letzte war, was sie je zu ihm sagen würde. Wenn sie überleben wollten, versuchen zu vergessen, was kein Mensch vergessen konnte, dann durften sie einander nicht mehr sehen, sondern mussten in der Stadt wie Fremde aneinander vorüberlaufen.
»Aber du kannst doch jetzt nicht gehen«, hatte er gesagt. »Lass mich mit Mr Weaver sprechen, lass mich alles regeln. Du bist zu schwach. Du musst dich ausruhen.«
Liebend gern hätte sie es ihn regeln lassen, aber das war nicht möglich. Sie hatte zur Tür gehen wollen, da war er ihr in den Weg gesprungen, und sie hatte begriffen, dass selbst der größte Wahnsinn, der einem Menschen widerfahren konnte, sich steigern ließ. Nach allem, was geschehen war, nach allem, was sie getan hatten, glaubte er noch immer, sie werde ihn heiraten, sie werde bleiben, um mit ihm zu leben und mit ihm als Vater ihr Kind aufzuziehen. Hyperions Kind.
Weil das Ganze so völlig absurd war und weil sie all ihre Tränen geweint hatte, hatte sie lachen müssen, so wild, dass es ihren Körper schüttelte. Victor hatte sie angeschrien. Dann hatte er sie geohrfeigt. Sie aber hatte nicht aufhören können, sondern immer weitergelacht.
Jetzt lachte sie nicht. Stattdessen erinnerte sie sich plötzlich daran, wie er sie in jener Nacht angesehen hatte, wie er sie damals, nach Daphnes Verlobungsfeier, in dem kleinen Hotel angesehen hatte, wie er sie schon am ersten Tag auf dem Platz vor dem Bahnhof angesehen hatte, nachdem sie dem Betrüger aufgesessen war. Er hatte die wärmsten Augen von der Welt, fiel ihr ein, und sie verstand nicht, warum sie es vorher nie bemerkt hatte. Jetzt waren alle Wärme, alle Fürsorge und Zärtlichkeit aus seinen Augen verschwunden. Der Mann, der auf sie hinabblickte, sah aus, als wollte er die riesigen Hände heben, um sie um ihren Hals zu legen und ihr die Luft abzudrücken.
Mildred schauderte. Sie war nie eine Frau gewesen, die sich einschüchtern ließ. Verhalten wie das von Bernice Weaver schürte ihren Zorn, bis sie sich vor sich selbst fürchtete. Jetzt aber, vor diesem Mann, der nur still in ihrem Weg stand, hätte sie sich am liebsten geduckt oder wäre davongelaufen.
Sie war daran gewöhnt, verachtet und gehasst zu werden, doch der Hass des Mannes, der stumm und ungreifbar blieb, drohte ihr Schlimmeres an, als sie sich auszumalen wagte. Er wollte sie vernichten. An jenem Morgen, als sie mit letzter Kraft aus seinem Haus geeilt war, hatte sie sich einen Todfeind gemacht.
Kam nicht Hyperion ihr nach? Konnte er nicht einmal zur Stelle sein, wenn sie ihn brauchte, an ihre Seite treten und ihr wie ein gewöhnlicher Ehemann den Arm reichen? Sie wagte nicht, sich umzudrehen, und die Stimmen, die sich aus
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