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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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glich.
    »Wegen Noras Magenleiden werde ich nach London fahren müssen«, bekundete Bernice. »Es gibt einfach keine anerkannten Spezialisten hier.«
    Hector stöhnte. Seiner Ansicht nach waren Noras Arztkosten Geldverschwendung. Nur weil ein Mädchen nicht mit Bernices Fettmassen mithielt, hatte es noch lange kein Magenleiden, und seine Tochter war eine Bohnenstange, seit sie auf der Welt war. Aber darum stritt er sich nicht. Wenn es ihr Vergnügen bereitete, die Tochter von einem Quacksalber zum nächsten zu schleppen, sollte sie es mit seinem Segen tun.
    Sie erhob sich, dass das Polster des Lehnstuhls ächzte. »Wir müssen gehen.«
    Er erhob sich ebenfalls und tätschelte ihr noch einmal den Arm. »Tu wegen Nora, was du für richtig hältst. Ich vertraue dir völlig.«
    »Du willst sagen, es interessiert dich nicht, ob deine Tochter vor vollen Tellern verhungert«, entgegnete sie und stampfte aus dem Raum.
    Schnell wurde klar, dass der Theaterabend nicht dazu angetan war, ihre Laune aufzubessern. Zunächst war es das Kleid von Maria Lewis, das sie bereits im Foyer so gehässig musterte wie eine Hündin mit Futterneid. Hätte sie selbst sich in einem so hellen Gelb gezeigt, hätte sie ausgesehen wie ein glasiertes Törtchen, und hätte sie eine derart das Gesäß betonende Krinoline angelegt, so hätte sie anderen Besuchern den Eingang versperrt.
    Anschließend empörte sie sich über Hectors Wahl der Aufführung, obgleich Hector überhaupt nicht gewählt, sondern einfach die nächste verfügbare Loge gebucht hatte. Dargeboten wurde kein klassisches Drama und auch keine moderne Komödie, sondern eine sogenannte Music Hall, eine Art Varieté ohne Niveau. Albern aufgemachte Sänger gaben derbe Spottliedchen zum Besten, knapp bekleidete Exotinnen, die in Wahrheit von der Gewürzinsel stammten, tanzten mit Schlangen, Feuerschlucker tranken Glut aus Damenschuhen, und ein paar Dummköpfe brachten das Volk auf den Rängen dazu, vor Lachen zu brüllen, indem sie sich gegenseitig Dessertschüsseln in die Gesichter warfen. Solche Aufführungen zogen die Massen an wie ein Abort die Fliegen. Hector hatte verstohlen sein Vergnügen daran. Dass man die armen Teufel, die nicht in der Lage waren, sich um einen speckigen Kragen einen Binder zu legen, neuerdings an die Wahlurnen ließ, erfüllte ihn mit Grusel und Faszination.
    Dass Maria die versammelte Plebs zwar mit vernichtenden Scherzen bedachte, sich aber in Bernices Entrüstung nicht hineinziehen ließ, erzürnte jene noch mehr. Henry Lewis hingegen gähnte herzhaft, und Hectors Bemühungen, ihn in ein Gespräch über Schiffsbau zu verwickeln, verliefen im Sand. Stattdessen entdeckte Hector, während sie an der Bar Champagner tranken, etwas anderes, das ihm den Abend versüßte – Victor März. Er trug einen Anzug, dem man den hohen Preis so deutlich ansah, als befände sich ein Etikett am Revers, was dessen Stil jedoch nicht aufhalf. An seinem Arm hing ein Weibchen, das die Geschmacklosigkeit des Anzugs noch übertraf – Sukie Ralph. Noch immer wurmte es Hector, dass der Deutsche sich über seine Anordnung hinweggesetzt hatte, und doch hatte er weit eher Grund, sich über den Kerl zu amüsieren. Offenbar klebte Sukie, die ihm inzwischen einen Bastard angehängt hatte, an ihm wie ein schlechter Ruf – wie man sich wand oder zappelte, man wurde ihn nicht los.
    März sah allerdings aus, als wäre ihm nach Zappeln und Winden zumute. Wie so oft, wenn er dem Mann zusah, um sich über ihn lustig zu machen, traf Hector seine Schönheit wie ein Schlag. Unter dem Stoff des scheußlichen Anzugs befanden sich die Schultern eines Herkules, aus denen wie bei den Statuen der klassischen Antike säulengleich der Hals wuchs. Dass etwas so Schweres beseelt von so viel Anmut sein konnte, jagte ein Kribbeln durch seine Glieder und machte den Zwang, still zu stehen, zur Tortur. »Was ist dir denn, Hector?«, erkundigte sich Maria, deren Augen so scharf wie ihre Zunge waren. »Wäre es nicht unschicklich, derlei auch nur zu denken, nähme ich an, du hättest ein unaufschiebbares Bedürfnis.«
    Schockiert sog Bernice Luft ein. Dann verlagerte sie mit einem Rauschen des Kleides ihre Fülle nach links. »Wenn wir dem Krawall wirklich beiwohnen wollen, brechen wir besser auf«, sagte sie.
    Die Übrigen folgten, Maria nicht ohne einen weiteren Blick auf Hector, dem es noch immer in den Gliedern kribbelte. Er musste etwas tun, brauchte ein neues Spielzeug, um sich abzulenken. Jetzt sofort. Nicht

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