Die Mondrose
erst in Jahren. Sein Blick fiel auf seine Finger, die auf die Luft wie auf ein unsichtbares Klavier eintrommelten. Wer ihm zusah – und Maria tat es –, musste seinen Geist für krank halten. Fieberhaft dachte er nach, während sie hintereinander den Gang zu ihrer Loge durchquerten.
Er hatte sein Geld kürzlich neu angelegt, in der Portsea Building Society, einer vor ein paar Jahren gegründeten Institution, die angeblich dazu dienen sollte, den Empfängern kleinster Einkommen zu Vermögen zu verhelfen. In Wahrheit ließen sich mit etwas Glück die Horden mit ihren Kleinsteinkommen von ein paar wenigen Großanlegern schröpfen. Über seine Einlage konnte er jederzeit verfügen. Er würde die Hälfte auf seinem Konto belassen und die andere in den Schiffsbau investieren. Ein Schiff zu bauen bedeutete von alters her, sich zu befreien, sich von der Ankerkette der Vergangenheit loszureißen und neuen Ufern entgegenzusegeln. Unter diesen Vorstellungen vergaß er das Kribbeln in seinen Blutbahnen eine kurze Gnadenfrist lang. Bis er die Loge betrat und Bernice zu kreischen begann.
Die nimmermüde Maria hatte sich schon neben sie gedrängt, und Henry Lewis wendete sich kopfschüttelnd ab. Bernice stand an der Brüstung und wies quer durch den prunkvoll überladenen Theatersaal zu den gegenüberliegenden Logen. »Habe ich es euch nicht gesagt!«, rief sie klagend, als wäre sie keine Besucherin, sondern die Diva, die tragisch dahinstarb. »Habe ich es euch nicht gesagt, es war ein Fehler, zu diesem Schweinemarkt von Vorstellung zu gehen? Jetzt sitzt man den gesamten Abend lang eingepfercht mit dieser Ausgeburt!«
»Ich weiß nicht, was du hast«, erwiderte Maria. »Wenn du mich fragst, hat dieses kleine Familientreffen durchaus seinen Charme. Es dürfte reizvoller zugehen als vorn auf der Bühne.«
»Ich verbiete dir, dieses Weib meiner Familie zuzuzählen«, keifte Bernice. »Und um Mörderinnen zu begaffen, bin ich nicht hier.«
»Tatsächlich nicht?« Maria legte den Kopf schräg, dass der Spitzenschleier an ihrem zartgelben Hütchen ihr halb übers Gesicht fiel. »Ich habe mich oft gefragt, warum Leute ins Theater gehen, und ich glaube, sie tun es aus genau diesem Grund: um zu begaffen, was ihre Mütter ihnen streng verboten haben.«
»Manchmal beträgst du dich, als hättest du gar keine Mutter gehabt«, entgegnete Bernice angewidert. Sie wies noch immer hinüber zu den anderen Logen. »Hector! Hast du nicht gesehen, was los ist, oder teilst du etwa Marias bizarre Ansicht, man müsse nichts dagegen tun?«
»Was ist gegen die Frau eigentlich vorzubringen?«, erkundigte sich Henry Lewis. »Sie ist zweifellos ein wenig gewöhnlich und in einen eher unappetitlichen Vermisstenfall verwickelt, aber sie ist doch nicht die einzige Person, mit deren Existenz man sich nun einmal abfinden muss.«
»Ich kann nicht glauben, dass ich meinen eigenen Bruder so reden höre.« Bernice fasste sich an die Stirn, als wäre sie einer Ohnmacht nahe, die die Loge ins Wanken bringen mochte. Hector sah unverwandt in die Richtung, in die bis eben ihr Arm gewiesen hatte. In seinen Adern begann erneut das Kribbeln, das ihm keine Ruhe lassen würde. Ihnen schräg gegenüber, in einer der höher gelegenen Logen, saß Victor März. Ein Stück darunter, in der Loge, die wie ihre eigene der Bühne am nächsten lag, saßen sein Bruder und Mildred Adams. Das Kleid, das Mildred trug, war so rot wie das Feuer der Hölle und so eng wie deren Schlund.
Aber das war noch nicht alles. Hätte er seinen Blick dort belassen, wo er sich festgesaugt hatte, auf der roten Seide, die sich um Mildreds Brüste spannte, so hätte er womöglich den Abend über gegen das Kribbeln in seinen Gliedern gekämpft, am Morgen Schiffsbauanteile gekauft und auf seinen großen Coup in Frieden weitergewartet. Warum sein Blick sich löste und weiterwanderte, wusste er nicht. Vielleicht hatte er keine Wahl, vielleicht hielt die verfluchte Frau, die er aus seinem Leben nicht ausstreichen konnte, seinen Blick an einer unsichtbaren Kette. Auf dem obersten Rang, in derselben Farbe wie Mildred und von einem Mann begleitet, der nicht einmal nüchtern wirkte, saß Polly Pierson.
Hectors Herz schlug ihm wie der Schlegel einer Glocke in die Kehle. Die Schläge waren schlimmer als das Kribbeln, sie fielen laut und hart und ohne Unterlass.
»Sie zeigt mit dem Finger auf mich. Was muss ich mir noch gefallen lassen, was noch?«
»Es lässt sich doch jetzt nicht mehr ändern«, erwiderte
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