Die Mondrose
als wollte die Stadt im Dunkel der Vorzeit steckenbleiben. Grund zur Panik aber gab es nicht. Er würde sich umgehend seinen Einstieg in den Schiffsbau sichern, dann mochten die Stadtväter in ihrer Betulichkeit befinden, was sie wollten. Er schließlich war noch immer Hector Weaver mit dem untrüglichen Sinn für Gelegenheiten.
Allein, seine Sinne schienen ihm aufgepeitscht und stumpf zugleich. Alles, was er deutlich wahrnahm, waren die Bilder aus dem Theater, Mildred im roten Hurenkleid, Victor März, der sie ansah, wie kein Mensch je Hector ansehen würde, Mildred, die herumfuhr und Hyperion mit der Naturgewalt der verschmähten Liebenden backpfeifte, all die Leidenschaft, die seinem eigenen banalen Leben fehlte. Dazu roch er das süßliche Parfum von Polly Pierson, die ihn vor seinen Feinden bloßgestellt hatte, und hörte ihr galliges Lachen.
Quäl dich nicht damit herum. Lenk dich ab.
Aber die Gedanken an Schiffsbau verfehlten ihre Wirkung. Es gab nur eines, das half: Bilder von jener Dezembernacht am Meer zu beschwören und sich auszumalen, was geschehen würde, wenn er sein Wissen endlich nutzte. Würden die beiden, die sich hassten, weil sie von einer Art waren und voneinander nicht lassen konnten, sich gegenseitig zerfleischen, statt auf den loszugehen, der ihre wahre Nemesis war?
Er wollte sich beherrschen. Hundertmal hatte er sich gesagt, dass der Moment noch nicht gekommen war, auch wenn er einer Ermutigung noch so sehr bedurfte. Dann aber war der Detektiv gekommen. Nettlewood hatte sich an Hectors Anweisung wieder einmal nicht gehalten, und so stand der Kerl namens Wolfe schließlich in seiner Tür. Er war im Sommer schon einmal da gewesen. Damals hatte Hector ihm einen Haufen Zeug erzählt und seinen Spaß mit ihm gehabt.
»Ich halte Sie nicht lange auf«, versprach Wolfe. »Ich bin nur vorbeigekommen, um mich noch einmal für die Zeit zu bedanken, die Sie meinem Anliegen geopfert haben. Ich fand, es stünde Ihnen zu zu erfahren, dass ich fündig geworden bin.«
»Was meinen Sie? Haben Sie diese Annette May oder wie sie heißt etwa aufgetrieben?« Daran, dass es nicht um seine Schwägerin Daphne, sondern um den anderen Fall ging, hegte Hector keinen Zweifel, denn wo Daphne war, wusste er.
»Annette März«, berichtigte Wolfe. »Aufgetrieben habe ich sie nicht, aber ich habe Zeugen gefunden, die sie nach der Beschreibung einwandfrei erkannt haben. Sie müssen sich geirrt haben, Mr Weaver. Annette März hat doch mehrere Tage in Ihrer Herberge gewohnt, während sie auf die Geburt ihres Kindes wartete. Ihr Bruder war damals bereits in Ihrer Gasanstalt tätig, andernfalls wäre ihm seine Schwester über den Weg gelaufen. Ist das nicht eine traurige Geschichte, die beiden Geschwister, die sich so knapp verpassen? Annette wurde auf die Straße gesetzt, weil sie mit der Miete im Rückstand war. Zu diesem Zeitpunkt stand die Geburt unmittelbar bevor.«
Hector schluckte. Was wollte der Mann? »In meiner Herberge haben Tausende gewohnt«, brummte er. »Ich kann nicht jeden im Kopf behalten, und ich kann auch nicht jedem die Miete stunden. Was glauben Sie, was ich bin? Ein Wohlfahrtsinstitut?«
»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte Wolfe. »Natürlich kann Ihnen niemand einen Vorwurf machen, wenn Sie sich an eine einzelne Schwangere, die kein Englisch sprach, nicht erinnern. Einen Vorwurf könnte man Ihnen nur machen, wenn Sie wissentlich etwas unterschlagen und damit die Qual eines Menschen vergrößert hätten. Aber wer würde schon etwas so Grausames tun? Man kann sich schließlich lebhaft vorstellen, wie es schmerzen muss, nicht nur eine geliebte Person zu verlieren, sondern nicht einmal zu ahnen, welches Schicksal ihr beschieden war.«
In Hectors Kopf begann ein Mühlrad sich zu drehen. »Ich weiß beim besten Willen nicht, was Sie sagen wollen.«
»Nichts, Mr Weaver. Absolut nichts.« Der Detektiv hob die Hände. »Ich will Sie auch nicht länger von der Arbeit abhalten, aber da ich nun einmal hier bin, kann ich auch noch fragen, ob Ihnen zum Verschwinden Ihrer Schwägerin vielleicht etwas eingefallen ist?«
»Herrgott, meine Schwägerin ist seit vier Jahren fort. Ich begreife nicht, warum mein Bruder nicht endlich aufgibt.«
»Soweit ich es beurteilen kann, wird Ihr Bruder nie aufgeben«, entgegnete Wolfe. »Er hat seine Frau und seinen Jungen über alle Maßen geliebt, und ich denke, er wird erst dann eine Art Frieden finden, wenn er weiß, was ihnen zugestoßen ist. Deshalb habe auch ich
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