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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Betten zu Tode keuchten, hatten keine Möglichkeit, sich zu hüten.
    Das Kind, das beim Gitter lag, röchelte. Ein Mädchen von knapp drei Jahren, das Gesicht schon bläulich, das Haar zart und rot. Die Frau, die an seinen Hosen zerrte, hatte ähnliches Haar. »Sie müssen mir mein Mädchen retten, Doktor. Ich leb doch nur für sie.«
    Bin ich Gott? Kann ich Wunder wirken? Ich kann nicht einmal eine Überweisung für das Sankt-Joseph-Spital ausstellen, damit das arme Ding einen Schnitt bekommt und etwas sachter stirbt. So hilflos, wie ich auf der Krim war, bin ich’s hier. Als einer der Sponsoren des Spitals besaß er das Recht, jährlich eine bestimmte Anzahl Patienten einzuweisen, doch sein Kontingent war längst überschritten. Für jedes Bett bestanden Wartelisten, und Kranke, denen es am Nötigsten fehlte, wurden ohnehin abgewiesen, weil sie weder die Kraft noch die Mittel zur Genesung aufbrachten.
    »Es tut mir leid.« Der Name der Frau fiel ihm nicht ein. »Ich gebe noch einmal Silbernitrat, damit betupfen Sie der Kleinen den Rachen, aber mehr steht nicht in meiner Macht.«
    In deiner Macht, Dr. Weaver? In deiner Ohnmacht, solltest du sagen, denn was bewirkt dein Silbernitrat, was vermag es gegen Elend und Tod? Er bezahlte das Medikament aus eigener Tasche, weil das Arbeitshaus dafür nicht aufkam, aber damit ließ sich sein Gewissen nicht abspeisen. Auf einmal verlangte es ihn danach, sich die Handschuhe von den Händen zu zerren und dem Kind den rostbraunen Belag, der es umbringen würde, mit bloßem Finger vom Rachen zu kratzen, es nur einmal zu berühren, wie ein Mensch einen Menschen berührte. Wenn ich sie einweisen ließe, könnte ich Vernon bitten, ihr noch vor dem Abend den Schnitt zu setzen. Vielleicht überlebt sie die Nacht. Vielleicht geschieht ein Wunder, wenn wir es erlauben.
    Die Frau war in sich zusammengesunken und wimmerte, wohl wissend, dass sie verloren hatte. Ihr starb nicht das erste Kind, sondern das letzte von dreien. Der Strohhalm, der von ihrem Leben übrig war, seit ihr Mann als Krüppel von der Krim zurückgekehrt war und ihre Existenz versoffen hatte. Seit sie in dieser Hölle hauste, aus der es nur auf dem Papier ein Entrinnen gab. Hyperion stopfte die Flasche mit Silbernitrat zurück in seinen Koffer und zog einen Ordner heraus. Mühselig balancierte er ihn auf dem Unterarm, um die Angaben in das Dokument zu füllen.
    »Ihre Tochter heißt mit dem Vornamen?«
    Die Frau blickte auf. Das Glimmen der Hoffnung, das über ihr Gesicht blitzte, kannte er gut – und sein Erlöschen noch besser. »Lydia. Lydia Alexandrina. Das ist der Mittelname der Königin.«
    Hyperion trug die klangvollen Namen in die Spalte ein und setzte seinen eigenen in die Zeile für den Sponsor. Es würde nicht genügen. Vernon, sein Doktorvater und Leiter des Spitals, hatte ihn gewarnt. Den nächsten Patienten, den er ihm über sein Kontingent hinaus schickte, würde er abweisen. Er war kein harter Mann, er hatte sich ein Leben lang für die Krankenversorgung der Armen aufgerieben, aber auch ihm waren die Hände gebunden. »Zu mehr bin ich nicht imstande, Weaver. Ich kann so wenig ein freies Bett herzaubern wie Sie. Entweder Sie erhöhen Ihr Kontingent, was Ihnen, soweit ich weiß, nicht möglich ist, oder Sie verschließen künftig die Augen und schicken weniger Patienten.« Vernon hatte recht. Hyperions Mittel waren ausgeschöpft. Hätte er dem Spital mehr Geld spenden wollen, hätte er sein Haus beleihen müssen.
    Ihm blieb nichts anderes übrig als der Biss in den sauersten Apfel – er musste seinen Bruder aufsuchen und wieder einmal um Hilfe betteln. »Hören Sie«, sagte er zu der Frau. »Die Papiere bekommen Sie von mir, aber ins Spital schaffen müssen Sie die Kleine selbst. Mit der Leitung spreche ich. Man soll Ihnen einen Wagen rufen.« Aus der Hosentasche fischte er eine Anzahl Münzen, die er seinem Hausmädchen schuldete. Die arme Priscilla würde warten müssen, bis aus dem Holzhandel die nächste Auszahlung anstand. »Wenden Sie sich an Dr. Vernon. Wenn er die Einweisung beanstandet, richten Sie ihm aus, ich reiche die Unterschrift eines weiteren Sponsors nach. Können Sie sich das merken?«
    Die Frau nickte heftig, wobei ihr noch immer die Tränen über die Wangen strömten. »Sie sind ein Engel, Doktor«, flüsterte sie. »Mein Mädchen und ich, wir werden Ihnen das nie vergessen.«
    Wenn deine Tochter morgen früh noch lebt, glaube ich wirklich, dass ein Engel am Werk war. Nur bin der Engel

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