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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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nicht ich.
    Die Frau hatte Mühe, sich auf die Füße zu rappeln. Sie war noch nicht dreißig, kaum älter als er, doch ihr Ächzen war das einer Greisin. »Sie nehmen meinen Wagen«, entschied er. Er konnte zu Fuß gehen und sich dabei zurechtlegen, was er Hector sagen wollte. »Von dem Geld kaufen Sie sich ein warmes Mittagbrot.«
    »Gott schütze Sie, Doktor.« Sie hatte schöne Augen. Nicht blau wie die seiner Mutter, aber von derselben Verletzlichkeit. »Ich hätte nicht gedacht, einmal einen Mann zu treffen, der ein Herz hat. Sie sagen der Leitung Bescheid, ja?«
    »Gewiss.« Ohne Erlaubnis durfte kein Insasse das Arbeitshaus verlassen. Er nahm rasch Abschied, weil er ihre Dankbarkeit nicht ertrug, und überließ es ihr, die Kleine aus dem Bett zu heben.
    Vor dem Tor, der zum Schneiden dicken Luft entronnen, schöpfte er in tiefen Zügen Atem, ehe er seinen Weg antrat. Es regnete leicht, nicht dicht genug, um einen Schirm aufzuspannen. Am Meer musste es jetzt schön sein, das starre Hellgrau des Himmels über dem tobenden Dunkelgrau des Wassers. Hyperion war lange nicht am Meer gewesen. An manchen Tagen vergaß er, dass er so nah an seinem Ufer lebte.
    Weit zu gehen hatte er nicht. Milton’s Court, wo der Bruder um diese Tageszeit vermutlich anzutreffen war, lag hinter dem Fischereihafen, im Bezirk Point, den die Bewohner Gewürzinsel nannten. Nicht weil es in den engen Gassen aromatische Würzmittel zu kaufen gab wie im legendären Sansibar, sondern weil es dort so deftig stank. Über Milton’s Court hätte Hyperion längst mit Hector reden sollen, Vernon hatte ihn mehr als einmal dazu angehalten. »Es schadet unserem Ruf, Weaver. Wir predigen Hygiene und gesunde Lebensweise, und unter unseren Nasen führt Ihr Bruder ein Etablissement, das vor Schmutz in jedem Sinne strotzt. Reden Sie ihm ins Gewissen, stehen Sie nicht tatenlos herum.«
    Wie aber sollte Hyperion einem anderen ins Gewissen reden, wenn sein eigenes ihn ständig zwackte? In der Tat, sein Bruder vermietete verdreckte Betten zu Wucherpreisen an Emigranten, aber wer war Hyperion, ihm Moral zu predigen? Was er Hector verdankte, erläuterte er Vernon besser nicht. Im Grunde bestritt jener durch seine Arbeit den Unterhalt des Hauses Mount Othrys, das Hyperions Vater für seine Mutter hatte bauen lassen und das Hyperion geerbt hatte. Das Haus war viel mehr als ein Dach über dem Kopf. Es war sein Elysium, in das er nach dem Elend der Tage fliehen konnte, ein Hort, in dem Schönheit und Stille herrschten. Zudem bewohnte er es nicht allein. Im Altenteil lebte Nell, seine Großmutter väterlicher Seite. Dass Hyperion ihr Zuhause in Gefahr brachte und dass sie dem geschmähten Hector dessen Erhalt verdankte, hätte die betagte Dame fraglos entsetzt.
    Dabei hätte Hector keine Schmähung, sondern Dankbarkeit verdient. Von Anfang an war er, Hyperion, vom Glück begünstigt gewesen, des Vaters Liebling, Kronsohn seiner vergötterten Amelia. Dass er sich weigerte, das Geschäft der Familie weiterzuführen, und nach Oxford ging, um Medizin zu studieren, hatte dem Vater das Herz gebrochen. Bis zu seinem Tod sprach der alte Mann kein Wort mehr mit ihm, doch statt ihn gänzlich zu verstoßen, setzte er ihn als Haupterben ein.
    Hector hingegen, der alles tat, um den Vater zu erfreuen, musste sich mit der Hälfte der Einnahmen begnügen und hatte von dem Alten nie ein lobendes Wort gehört. Es war, als ließe George Weaver es seinen Erstgeborenen büßen, dass dessen Mutter ihn zum Gespött der Stadt gemacht hatte. Sie war noch am Leben, Polly Pierson, seit der Scheidung dem Trunk ergeben, doch nicht totzukriegen, während George und seine Amelia längst in schweigsamer Erde ruhten.
    Den Gedanken an Amelia drängte er beiseite. Es war nicht recht, dass ein Mann von sechsundzwanzig Jahren sich noch immer so schmerzlich nach seiner Mutter sehnte. Das Fleckfieber hatte ihr Leben ausgelöscht, eine Geißel, der bis heute nicht beizukommen war. An ihrem Sarg hatte Hyperion, damals keine sechzehn, sich geschworen, Arzt zu werden und ein Ende zu machen mit all dem Leiden und Sterben viel zu junger Menschen. Und wie weit war er damit gekommen? Einen Krieg hatte er hinter sich, dessen Gräuel ihn bis in seine Träume verfolgten, er tat unbezahlten Dienst im Spital, so dass ihm kaum Zeit für zahlende Patienten blieb, aber was veränderte er? War seine Arbeit mehr als ein Tropfen, bewahrte sie Leben? Eines vielleicht. Das der kleinen Lydia. Hyperion ging schneller. Als es

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