Die Mondrose
nach faulem Fisch zu stinken begann, hielt er tapfer den Atem an.
Die Häuser von Point schienen zu der Stadt, in der er wohnte, nicht zu gehören. Wie ein Blütenstrauch war Portsmouth. Während allerorts Knospen aufplatzten und frisches Grün hervorbrach, welkte hier das Laub, bis der Gärtner es schnitt. Auf dem Pflaster spielten Kinder in Lumpen. Viele von ihnen trugen in den Zügen Erinnerung an Länder Osteuropas, die sie nie wiedersehen würden. Sie und ihre Eltern waren Gestrandete, wie Treibgut an Portsmouths Küste gespült, und aus den Sehnsüchten, die sie auf ihren Schultern schleppten, schlugen Leute wie Hector Geld. Hyperion musste sich überwinden, durch die Zufahrt in den lichtlosen Hof zu treten. Milton’s Court, Mietpension. Den Gestank nach Fisch überdeckten längst andere Gerüche, die keineswegs erträglicher waren.
Im Hof herrschte Getümmel, das in Augen und Ohren schrillte. Trotz des Regens spannten Weiber Wäscheleinen, traktierten den Schwengel der Wasserpumpe, streuten Hühnerfutter und versohlten Kinderhintern, während Männer sich in Winkel drückten, um zu schwatzen oder zu schweigen. Tierhaltung war verboten, aber für ein Stück Fleisch brach das Gesetz sich schnell. Eine Hand griff nach seinem Ärmel, ein dürres Weiblein hielt ihm einen Korb entgegen. Sträuße von Küchenkräutern, mehr grau als grün vom Sprießen im sonnenlosen Hof. Hastig befreite er sich, bemüht, die Frau nicht anzusehen. Geld hatte er ohnehin keines mehr.
Im Eingang des Seitenflügels befand sich ein Kabuff, das sein Bruder die Portiersloge nannte. Der Mann darin sprang auf, als er Hyperion kommen sah, wobei er sich den Kopf an der Decke stieß. Er füllte den winzigen Kasten aus, und als er heraustrat, nahm er Hyperion die Sicht ins Treppenhaus. »Guten Tag, mein Herr. Wie kann ich behilflich sein?« Der Sprache nach war er kein Engländer und der Höflichkeit nach noch nicht lange hier.
»Ich muss meinen Bruder sprechen. Es ist dringend.« Für gewöhnlich saß Hector selbst hier oder ließ die Loge unbesetzt, aber neuerdings leistete er sich offenbar einen Aufpasser.
Der Riese hob fragend die Brauen.
»Oh, entschuldigen Sie. Mein Name ist Hyperion Weaver.«
Der andere hielt ihm eine erstaunlich saubere Hand entgegen. »Victor März.« Überhaupt war er erstaunlich sauber, die Wangen geschrubbt, die zu enge Kleidung wie aus dem Ei gepellt. »Mr Weaver ist Ihr Bruder?«
Hyperion schlug ein. Der Mann gefiel ihm. Er hatte etwas Offenes, Argloses an sich, das hier kein Mensch erwartete. Über seiner Schulter erschien der Kopf einer Frau, der das Haar aus der Haube quoll. »Ich hab Seife bestellt und nichts bekommen! Ich hab Wäsche zu waschen, wie stellt ihr Leute euch das vor?«
Victor März verbeugte sich. »Verzeihung bitte. Ihr Bruder ist in den Docks, bei einer Lieferung. Kann gern gehen und ihn holen. Nur einen Moment.« Damit wandte er sich nach der Frau um. Sie war jung und so erfüllt von zorniger Kraft, dass Hyperion schmunzeln musste. Die jedenfalls bekam das Elend von Milton’s Court nicht klein. »Tut mir so leid, Miss Mildred. Mr Weaver sagt, er kann keine Bestellung mehr stunden, und den Mietzins nur noch bis Ende der Woche …«
»Mietzins?«, fauchte die Frau. »Um seinen Mietzins macht der Herr ein Gezeter, wo wir uns die Krätze holen in dem Lumpenbett? Was will er denn tun, wenn wir ihm nicht noch mehr in den Rachen stopfen? Uns auf die Straße werfen? Meine Schwester liegt krank. Seine Christenpflicht wär’s, einen Arzt zu holen.«
»Woran fehlt es Ihrer Schwester denn?«, warf Hyperion ein. Die Not der Frau war keineswegs komisch, doch er kämpfte noch immer mit dem ungewohnten Schmunzeln. Es war die Entschlossenheit der jungen Frau, die ihn zum Lachen reizte.
Ihre Augen blitzten. »Was schert das Sie?«
Hyperion zog seinen Hut. »Genau betrachtet nichts. Nur nahm ich an, dass Sie einen Arzt brauchen.«
»Sie werden mir kaum einen schicken.«
»Er steht vor Ihnen.« Hyperion verbeugte sich. Als er aufsah, traf ihn der Blick der Frau. Grünäugig. Dunkel vor Zorn.
»Das macht Ihnen Spaß, was? Wenn das dumme Pack auf die Nase fällt, haben die Herren was zu lachen. Wie schäbig das ist. Manche, die’s hier im Dreck mit Matrosen treiben, hätten zu viel Anstand dazu.« Sie schwang herum, warf Victor März hin: »Ich brauch die Seife«, und stampfte die Treppe hinauf. Hyperions Hand fuhr an seine Wange, als wäre er geohrfeigt worden und hätte es redlich
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