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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Daphne mit sich. Der Verbrecher jedoch griff nicht sie an, sondern Wilson, den er bei den Schultern packte und schüttelte. Dabei schrie er auf ihn nieder und beugte sich über ihn, dass der Geschäftsmann sich unter ihm krümmte. Mildred hätte mit Daphne fliehen sollen, aber sie stand wie festgewachsen da. Unser Geld – mehr konnte sie nicht denken. Sie selbst mochte eine Nacht in der Kälte überstehen, doch Daphne würde es das Leben kosten.
    Auf Hilfe von Passanten wagte Mildred nicht zu hoffen. Sie stammte aus Londons Osten, wo in jedem Winkel Leute bestohlen, geschlagen und geschändet wurden, ohne dass jemand eine Wimper zuckte. Durch Schleier sah sie, wie Wilson floh. Mit fliegenden Rockschößen preschte er die Straße hinauf und tauchte in der Menge unter. Daphne ließ sich in ihre Arme fallen und begann zu weinen. Flüchtig wünschte Mildred, dasselbe zu tun.
    »Ist alles gut jetzt. Das Schwein ist weg.«
    Die Worte klangen hart, wie in Silben zerhackt. Mildred drängte Daphne hinter ihren Rücken und reckte sich zu voller Größe. Wollte der Satan Hand an ihre Schwester legen, so musste er es über ihre Leiche tun.
    »Verstehen Sie mich? Sie müssen nicht Angst haben. Ist jetzt alles gut.«
    Mildred sah ihn die Hand ausstrecken und sprang mit Daphne zurück. Er aber berührte sie nicht, sondern hielt ihr etwas entgegen. Etwas Weißes. Wilsons Taschentuch. Was darin klirrte, waren ihre Geldmünzen.
    »Den Drecksmann sollten die ins Gefängnis sperren«, sagte der Navvy und schwang das Bündel. »Der steht immer hier, hält nach Mädchen Ausschau und betrügt sie um ihr Geld. Aber die lassen den machen. Dafür, dass einer arme Weibsleute ausnimmt, kommt er in keinen Bau.«
    Der Mann war wahrhaftig ein Hüne. Er hatte die Filzkappe vom Kopf gezogen und zerquetschte sie in einer Pranke. In ihrem Rücken spürte Mildred Daphnes Zittern. Als sie sich aber umwandte, bemerkte sie, dass das Zittern von ihr selbst kam und dass ihr die Beine in den Knien knickten. Ehe sie aufs Pflaster schlug, war der große Mann bei ihr und fing sie auf.
    Geruch nach feuchtem Leder stieg ihr in die Nase. Sie fühlte sich gehalten, spürte Hände, die über ihren Kopf strichen, und ein Herz, das an ihrem Ohr kräftig schlug. »Armes Kleines. Ist ja weg, der Drecksmann. Tut dir nichts mehr. Niemals mehr.«
    Trotz der zerhackten Worte war die Stimme sacht. Nie zuvor hatte ein Mensch Mildred klein genannt oder ihr den Kopf gestreichelt.
    »Habt keine Unterkunft?«
    Sie brachte keine Antwort heraus, und er erwartete keine.
    »Musst dich nicht sorgen. Ich nehm euch mit.« Kurz hielt er inne, doch als sie noch immer nichts erwiderte, sprach er weiter: »Victor März heiß ich. Bin Aufseher in Weaver’s Mietpension. Ist nicht schön da. Auch nicht sauber. Aber wärmer als hier.«
    Mildred wollte sich befreien, doch der Augenblick der Schwäche tat so gut, dass sie noch einmal zurücksank. Gewiss stank der Kerl und war von oben bis unten verdreckt. Gewiss log er. Zudem war er kein Engländer, noch nicht einmal Ire. Aber er hielt sie fest und hatte begonnen sich mit ihr zu wiegen und zu summen. Sein Wiegenlied erkannte sie nicht. Es kam ihr vor wie ihr eigenes:
    »Lavendel ist blau, dilly dilly,
    Lavendel ist grün.
    Wenn ich erst König bin, dilly dilly,
    Wirst du meine Königin.«

Kapitel 4
    Portsea Island Union Arbeitshaus, Dezember 1860
    Z u Hyperions Entsetzen fiel die Frau vor ihm auf die Knie. Sie klammerte sich an seine Hosenbeine und rüttelte daran wie an verschlossenen Türen, heftiger, als man es dem schmächtigen Persönchen zugetraut hätte. Dabei gab sie Laute von sich, die ihn ans Heulen einer Wölfin denken ließen.
    Hyperion hangelte nach Halt und erwischte das Gitter des Bettgestells. Vier Kinder lagen auf der verdreckten Matratze. Vierstimmig pfiffen ihre Atemzüge, wobei die Bauchdecken sich vor Anstrengung höhlten. Überleben würde keines von ihnen. Noch vor Ende der Woche würden andere Kranke hier pfeifend atmen, erst ihr Bewusstsein verlieren und dann ihr klägliches Leben. Hyperion trug Handschuhe. Da noch immer niemand wusste, wie man sich die Krankheit zuzog, war Vorsicht geboten. Bekannt war nur, dass sie wie ein Lauffeuer um sich sprang. Ein französischer Spitalarzt, Bretonneau, war der Überzeugung, dass jede Infektion sich einem Erreger zuordnen ließ, und vor diesem Erreger galt es, sich zu hüten. Pasteurs Forschungen untermauerten die These. Die bejammernswerten Geschöpfe aber, die sich in solchen

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