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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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köstlichste Vergnügen seines Lebens verspielt. Den Sommer über blieb er standhaft. Bis die Nachricht aus Spanien eintraf.
    Mit Wimpeln geschmückt und von begeistert johlenden Zuschauern verabschiedet, war die HMS Captain im August zu ihrem ersten Flottenmanöver vor der spanischen Küste ausgelaufen. Dass der Kontrollausschuss noch immer wegen der angeblich zu großen Wasserverdrängung herumnörgelte, verhallte im Glanz jenes triumphalen Tages ungehört. Keine drei Wochen später löschte die Hiobsbotschaft den Jubel aus. In einer stürmischen Nacht war das Prachtschiff bei Cap Finisterre von einer Bö getroffen worden und wie ein Stein gesunken.
    Ganz Portsmouth schien von nichts anderem zu sprechen. Ein Untersuchungsausschuss wurde eingesetzt, der gravierende Fehler beim Bau des Schiffs für den Tod von fast fünfhundert Seeleuten verantwortlich machte. Hector hatte ein Gefühl, als würden sich Blicke und ausgestreckte Finger in sein Fleisch bohren, sooft er einen Fuß auf die Straße setzte, und in seinen Ohren hallte ein beständiges Getuschel: Seht ihr den? Das ist Hector Weaver, der am Bau der Captain beteiligt war. Entweder der Mann hat kein Verantwortungsgefühl, oder er ist ein Idiot …
    Hector stiftete Geld für einen Fonds, der für die Witwen und Waisen der Opfer errichtet wurde. Aber das half ihm nicht, zumal die Summe, die er sich leisten konnte, kaum der Rede wert war. Er wohnte der Züchtigung seines Sohnes bei, die er nicht länger für Dummheit, sondern für Frechheit durchführen ließ, doch das half ihm noch weniger. Bei dem Burschen war Hopfen und Malz verloren. Verstockt, wie er war, schrie er nicht einmal auf, wenn Stock oder Peitsche auf seinen Hintern niedersauste, was dem Vorgang das Vergnügen raubte. Hinterher stand er mit schweißnasser Stirn da wie ein zum Tode verurteilter Rebell. Hatte Hector jahrelang unter Angst gelitten, Horatio könne schwachsinnig sein, so fürchtete er jetzt, der Sohn, der in der Schule als unlenkbares Genie galt, werde als Verbrecher enden.
    Gar nichts half ihm. Bis er die Briefe schrieb. Ohne darüber nachzudenken, setzte er eine Summe ein, wie er sie nie zuvor gefordert hatte. Einen solchen astronomischen Betrag konnten die beiden Vögel in ihrem Käfig nicht einfach begleichen, zumal es Gerüchte gab, auch Mildred habe Geld in der Building Society verloren. Diesmal musste es zu einer Eskalation kommen, und wenn sie stattfand, wenn die Leiber der Titanen zusammenprallten, würde er zur Stelle sein.
    Vielleicht würde es ihm dann gelingen, sein Leben zurück in seine Bahn zu lenken. Vielleicht konnte er dann, nach all den Monaten, endlich wieder tief und erholsam schlafen.

Kapitel 32
    Winter
    W ie lange war die Nacht im Dezember her? Fünf Jahre? Jetzt war wieder Dezember, wieder fiel Schneeregen, und wieder zitterte Mildred an allen Gliedern, während sie durch die schwarze Nacht nach Milton’s Court ging. Zu Fuß, einen Schleier vorm Gesicht, um nicht erkannt zu werden. Dieses Mal zitterte sie jedoch weder vor Angst noch vor Kälte, sondern vor Zorn, der alle anderen Gefühle erstickte.
    Sie hatte sich den Tag über beherrschen müssen. Die Kinder versorgen, ihnen die gelassene Mutter vorspielen. Als sie ihnen gute Nacht wünschte, die kleine Phoebe auf ihrem weißen Kissen liegen sah, schwoll ihr Zorn, bis sie sich zu allem fähig glaubte. Sie würde ihn töten. Dass Menschen zu Mördern wurden und am Ende ihr Bild in der Zeitung und ihren Hals in der Schlinge fanden, erschien ihr auf einmal begreiflich. Dieser Mann wollte sie zerstören, doch damit nicht genug. Er wollte die Zukunft ihrer Kinder zerstören. Hatte er etwas Milderes als den Tod verdient?
    Vielleicht war sie von Sinnen, vielleicht hatte sie in dem Moment, in dem sie den Umschlag aufgerissen und die Zahl auf dem Briefbogen gelesen hatte, den Verstand verloren. Vielleicht empfand sie aber auch nur, was etliche Frauen in Jahrhunderten vor ihr empfunden hatten, wenn etwas abgrundtief Böses ihre Kinder bedrohte und ihnen keinen anderen Ausweg ließ. Was immer aus ihr wurde, es war ihre Pflicht, ihre Kinder zu beschützen. Ehe sie in die Schwärze der Nacht hinauslief, steckte sie sich in ihre Rocktasche, zwischen Schlüssel und Börse, ein Messer. Dass sie nicht wusste, wie man einen Menschen damit tötete, spielte keine Rolle. Wenn sie erst vor ihm stand, wenn er sich weigerte, sie aus seinem Würgegriff zu entlassen, würde sie es wissen.
    Der Weg durch die Nacht kam ihr endlos vor.

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