Die Mondrose
aufgebaut habe! Ein Erpresser bist du, ein Blutsauger, der sich vom Leid von Menschen nährt.«
Er fuhr herum und vollführte einen Satz auf sie zu, doch bevor er sie erreichte, hatte sie das Messer in der Hand. Er sprang, und sie streckte den Arm aus und zielte in der Dunkelheit nach seinem Kopf. Als die Klinge auf Widerstand traf, entfuhr ihnen beiden ein Laut. Das Messer fiel zu Boden. Victor sandte einen Fluch hinterdrein und fasste sich ans Gesicht. Blut lief in einem breiten Rinnsal seine Wange hinunter. Mildred erschrak. Dann wurde ihr übel. Sie musste sich an der Bretterwand vor der Grube festhalten, um nicht zu stürzen.
»Glaubst du das wirklich?«, schnitt seine Stimme durch die Stille. »Dass ich es bin, der diese Briefe schreibt – glaubst du das?«
»Das habe ich dir doch geschrieben!«, fuhr sie auf, doch ihre Stimme war schwach und brach. »Mit dem letzten Geld habe ich dir geschrieben, dass ich nicht mehr zahle, und du hast trotzdem weitergemacht!«
Wieder herrschte eine Zeitlang Stille. »Komm mit«, sagte er dann in einem Ton, den sie nicht zu deuten wusste. »Wenn du Lärm machst, bringe ich dich um, darauf kannst du Gift nehmen.« Damit drehte er sich um und ging den Weg zurück zur Pension. Mildred stolperte hinterdrein, fuhr einmal herum, weil sie den Eindruck hatte, dass ihnen jemand folgte, und schleppte sich dann, als niemand zu sehen war, weiter.
Sie durchquerten das Tor und den Hof, der in völligem Dunkel lag. Statt auf das Verwalterhaus, in dem sie in jenem Dezember mit ihm gewohnt hatte, steuerte er auf das hufeisenförmige Gebäude der Pension zu. »Studenten«, zischte er, ehe er den Schlüssel ins Schloss einer Hintertür schob. »Studenten und Angehörige der Marine habe ich als Langzeitmieter. Keine Emigranten. Meine Zimmer sind sauber, und was ich meinen Gästen vorsetze, ist von bester Qualität.«
Auf eine Entgegnung wartete er nicht, sondern schob die Tür auf und ließ Mildred in die dunkle Halle. Dann schritt er nahezu geräuschlos auf eine schmale Tür zu, zog Mildred in den Raum, verschloss hinter sich die Tür und steckte eine Kerze an. Die enge Kammer war auf spartanische Weise als Büro eingerichtet, doch an der Längsseite stand eine Pritsche, auf der Bettzeug lag. Erst jetzt bemerkte Mildred, dass sie bis auf die Haut durchnässt war. Jähe Kälte ließ sie schaudern. Victor schloss einen eisernen Schrank auf, zog einen Packen Papier heraus und warf ihn auf den Schreibtisch. »Da, sieh dir die an. Habe ich mir selbst etwa auch Briefe geschrieben?«
Fassungslos trat Mildred vor den Tisch und blätterte die Papiere durch. Zweifel gab es nicht. Es waren die gleichen Briefe, die sie erhalten hatte, verfasst in derselben ungelenken Handschrift und versehen mit derselben Forderung nach Geld und immer mehr Geld. Sie ließ einzelne Bogen fallen und starrte auf die schiefen Buchstaben, die im Kerzenschein zu Linien verschwammen.
Endlich schaute sie auf. Drei Schritte von ihr entfernt stand Victor. Ihre Blicke trafen sich, und ihre Lippen formten ein Wort, das er verstand, obwohl kein Laut aus ihrer Kehle kam: Wer?
Er schüttelte den Kopf. »Es kann jeder sein. Irgendein Schwein, das uns beobachtet hat und sich die Hände reibt. Ich habe versucht es herauszufinden, aber wer immer es ist, er hat seine Spuren gekonnt verwischt. Ich habe auch überlegt, einen Detektiv, den ich kenne, zu beauftragen, doch wenn der Erpresser davon Wind bekommt, macht er womöglich seine Drohung wahr und läuft zur Polizei.«
»Du könntest sagen, du hast es getan, um mir zu helfen«, entfuhr es Mildred. Es war töricht, ihn auf eine solche Idee zu bringen. Aber es traf zu. Wenn er die Wahrheit sagte, würde man sie des Verbrechens anklagen, während er glimpflich davonkam. Warum ließ er sich dennoch erpressen, warum ging er nicht zur Polizei, zog seinen Kopf aus der Schlinge und vernichtete zugleich die Frau, die er aus tiefstem Herzen hasste?
Unverwandt sah Victor sie an. Seine Wange hinunter sickerte noch immer Blut und tropfte auf das leuchtende Weiß seines Kragens. Dass sie ihn verletzt hatte, war unbegreiflich, umso mehr, als er schuldlos war. Sie schlang die Arme um den Leib, doch das nützte nichts, es presste die klammen Kleider nur dichter auf ihre Haut.
»Zieh den Mantel aus, Mildred«, sagte er, »sonst holt dich der Tod.«
»Sonst holst du dir den Tod«, verbesserte sie.
»Nein. Der Tod holt die Leute.«
Vor der Erinnerung erstarrte sie. In seiner lautlosen Weise trat
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