Die Mondrose
er auf sie zu und zerrte ihr den Mantel von den Schultern. »Warum?«, flüsterte sie. »Warum gehst du nicht zur Polizei?«
Er wandte sich ab, trat zum Bett und hob eine Decke auf. »Das Risiko ist mir zu groß«, sagte er. »In den Augen der Leute bleibe ich ein Navvy, ein Ausländer, dem niemand Erfolg gönnt. Einen Skandal kann ich mir nicht erlauben. Ich habe das Kind meiner Schwester zu mir genommen, und die Kleine ist mein Leben. Wenn ich um ihretwillen diesem Schwein das, was er verlangt, in den Rachen werfen muss, dann muss es eben sein.«
»Heißt das, du zahlst?«
Er nickte, kam zu ihr und legte ihr, ohne sie zu berühren, die Decke um die Schultern.
»Aber ich kann nicht zahlen!«, platzte Mildred heraus. »Ich habe mein Geld verloren, ich habe mich krummgelegt, um mich wieder hochzurappeln, und jetzt kommt dieser Dreckskerl und bricht mir das Genick!« Sie zog die Decke um sich, doch ihre Zähne klapperten weiter.
Er musterte sie, als würde er in ihrem Gesicht nach etwas suchen, das ihm bei der Entscheidung half. Mildred wollte stillhalten, warten, obwohl sie nicht wusste, worauf, aber auf einmal ertrug sie das Blut auf seiner Wange nicht länger. Sie packte die Spitze am Bund ihres Ärmels, hob die Hand und wischte es ihm ab. Erst so grob, dass er zusammenzuckte, dann sachter. Zuletzt drückte sie die Spitze, die sie nie mehr sauber bekommen würde, auf die Wunde, bis die Blutung zum Stehen gebracht war. Der Schnitt war nicht lang, aber er würde vermutlich nicht spurlos abheilen, sondern eine Narbe hinterlassen. Es tut mir leid, wollte sie sagen, bekam jedoch kein Wort heraus. Ihre Finger ließen die Spitze los und strichen über den unverletzten Teil seiner Wange, spürten den Knochen unter rauer Haut.
Er stand völlig still. »Hör damit auf, Mildred«, sagte er. »Es ist gut. Ich zahle für dich. Dieses eine Mal lege ich das Geld hin, weil ich mich dazu entschlossen habe, nicht, weil du versuchst mich zu bezirzen. Wenn ich es nötig hätte, mir eine Hure zu kaufen, dann nähme ich eine mit sanfteren Händen.«
Bei dem Wort holte sie automatisch aus. Victor regte sich nicht, und Mildreds Hand schoss nach vorn, hielt aber inne, ehe sie sein Gesicht traf. Sie schlug ihn nicht. Als wäre sie ein Wesen mit eigenem Willen, schmiegte die Hand sich um seine Wange. Sie hatte ihn nicht gestreichelt, damit er für sie bezahlte, sie hatte an solche Möglichkeit nicht einmal gedacht. Ohne Grund liebkoste sie den Mann, der sie eine Hure schimpfte, strich ihm das feuchte Haar hinters Ohr, fuhr mit den Fingerspitzen über seine Schläfe.
»Hör damit auf«, murmelte er noch einmal.
Mildred legte die freie Hand auf seine Schulter und zog sich auf die Zehenspitzen. Lichter von der flackernden Kerzenflamme tanzten über sein Gesicht. Er schloss die Augen und stöhnte.
Durch seinen Leib fuhr ein Beben, dann schlang er die Arme um sie. In dem einen Moment, in dem ihre Lippen und seine sich trafen, glaubte sie den ganzen Schmerz zu fühlen – den Schmerz, von ihrem Mann verstoßen zu sein und sich Nacht für Nacht nach ihm zu sehnen, den Schmerz, eine ungewollte Frau zu sein, ein Werkzeug, das zu funktionieren hatte, für Kinder, Gäste und Dienstboten, ein Gaul, der nicht mehr brauchte als eine volle Raufe und ab und an ein Tätscheln der Schulter. Sie hatte diesen Schmerz mit Macht erdrückt, und jetzt war er überall in ihr, so dass sie sich an Victor festklammern musste und ihre Lippen auf seine pressen. Tränen strömten ihr die Wangen hinunter. Victors großer, fester Körper in ihren Armen bäumte und neigte sich, als gäbe er all seine Kraft, um sie zu küssen.
Durch Mildreds Leib schossen Ströme, die die Kälte schmolzen. Sie versuchte ihn noch dichter an sich zu ziehen, da hob er den Kopf und löste sich von ihr.
»Du musst jetzt gehen, Mildred. Wir sollten das nicht tun.«
Sie war so außer Atem, dass sie nur den Kopf schütteln konnte. »Gib mir einen Drink«, war alles, was sie herausbrachte.
Er ging zum Schrank, nahm eine Flasche Gin heraus und goss ein Glas zu einem Viertel voll. Im Begriff, den Schrank zu schließen, überlegte er es sich anders, holte ein zweites Glas und füllte es ebenso.
»Mehr«, sagte Mildred.
Er sandte ihr einen Blick. Dann goss er beide Gläser voll bis zum Rand und gab ihr eines. Der Gin war abscheulich, und genau das wollte sie. Er erzeugte Wärme in ihr und sofort wieder Kälte. »Gib mir noch einen.«
»Geh nach Hause.«
»Ich kann nicht.«
Er füllte die
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