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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Jäh erinnerte sie sich, wie oft sie in ebensolchem Dunkel die verdreckte Straße entlanggelaufen war, um nach Hause zu Daphne zu gehen, wie oft sie Angst gehabt hatte, Daphnes Krankheit könne sich verschlimmert haben, wie oft sie ihr hatte sagen müssen, dass sie auch an diesem Tag keine Arbeit und keinen Penny aufgetrieben hatte. War das ihr Leben gewesen? Sie war mit leeren Händen gekommen, und auf der Treppe hatte Victor sie abgefangen, um ihr Brot und Tee zuzustecken und ihr zu versichern: »Nur keine Sorge, Miss Mildred. Die Miete ist bezahlt.«
    Durch die Silberfäden des Schneeregens sah sie das massige Gebäude. Der Mann, der sie damals gerettet hatte, der sie in jener Nacht vor dem Wahnsinn bewahrt hatte, hielt jetzt die Hand erhoben, um sie zu vernichten. Einen Herzschlag lang hatte sie in jener Nacht, beim Blick in seine Augen, erkannt: Er liebt mich. So wie er wird nie wieder ein Mensch mich lieben. Immer war es Daphne gewesen, der eine solche Liebe hätte gelten sollen, die bedingungslose, zu jedem Opfer bereite Liebe, wie sie in Romanen vorkam. Dieses eine Mal aber galt sie Mildred – und einen weiteren Herzschlag lang erfüllte es sie mit Bedauern, dass diese Liebe zu nichts nütze war, dass sie Victor nicht wiedersehen und sich nie wieder von ihm beschützen und umsorgen lassen durfte.
    Was war mit dieser Liebe geschehen, welches Grauen war daraus geworden?
    Mildred hastete weiter. Wie weißer Rauch schnitt ihr Atem durch die Nacht. Sie erreichte das Tor des Gebäudes, über dem jetzt das alberne Schild der Pension hing. Immer hatten die beiden Flügel weit offen gestanden, im Durchgang hatten Huren ihre Freier und Hehler ihre Kunden empfangen, jetzt aber fand sie sie fest verschlossen vor. Sie rüttelte am Knauf, sie brüllte und fluchte, hob Steine auf und schleuderte sie gegen das Holz. Es dauerte eine Ewigkeit, bis hinter den Türen Schritte zu hören waren. Mit lautem Ratschen wurden Riegel zurückgeschoben, und dann öffnete ein Flügel des Tors sich um einen Spalt.
    Wen hatte sie erwartet? Einen Hausdiener oder Sukie Ralph? Er selbst war es, der den Kopf in den Spalt steckte. Victor. Ihr Todfeind. Kaum erkannte sie ihn, begann sie wieder zu schreien. Was sie ihm ins Gesicht schleuderte, wusste sie nicht – alle Beschimpfungen ihres Wortschatzes und neue, von denen sie nicht geahnt hatte, dass sie sie kannte.
    Geschmeidig schlüpfte er durch den Spalt, packte sie und presste ihr die Hand auf den Mund. Sie zappelte mit Armen und Beinen, versuchte ihn in die Hand zu beißen, schlug nach seinem Gesicht. Sie war eine starke Frau, und Not und Wut steigerten ihre Stärke um ein Vielfaches, er aber hielt sie mit einer Leichtigkeit, die sie rasend machte. »Entweder du hältst jetzt den Mund, oder ich werfe dich vorn an der Straße in die Jauchegrube«, zischte er gefährlich leise. »Was immer du hier willst, ich lege keinen Wert darauf, dass meine Kinder oder meine Gäste behelligt werden.«
    Sie nickte, um ihm zu bedeuten, dass sie schweigen würde. Kaum lockerte er den Griff, riss sie sich los, schlug ihm ins Gesicht und schrie von neuem: »Was hast du wohl im Winter für Gäste? Emigranten? Nimmst du sie aus und vergiftest sie mit Seuchen, wie du es mit Daphne und mir getan hast?«
    Er packte sofort wieder zu, und diesmal war sein Griff so hart, dass sie vor Schmerz zusammenfuhr. Ehe sie sich’s versah, hatte er sie in die Höhe gehoben und trug sie die Straße hinunter, ohne sich um ihr Zappeln und Treten zu scheren. Entsetzt bemerkte sie, wie der Gestank von der Grube, in die die Fisch- und Viehhändler ihren Dreck schütteten, mit jedem Schritt schärfer und beißender wurde. Er eilte voran, als hätte Mildred kein Gewicht. Erst an der Grube gelang es ihr, ihren Mund zu befreien. »Nicht!«, rief sie geradezu flehend.
    Er senkte die Arme. »Versprichst du mir, jetzt still zu sein?«
    Mildred konnte nur nicken. Victor stellte sie unsanft auf die Füße, drehte sich um und ging zurück zu seinem Haus. Nach wenigen Schritten wandte er noch einmal den Kopf. »Von mir aus kannst du gehen, woher du gekommen bist«, sagte er. »Ich habe geglaubt, ich hätte nur noch einen Wunsch – dich zu zerstören. Aber das ist vorbei. Es gibt Wichtigeres. Geh nach Hause zu deinen Kindern, Mildred. Ich habe mit dir nichts mehr zu schaffen.«
    »Du hast mit mir nichts mehr zu schaffen?«, schrie sie ihm hinterher. »Du bist es doch, der mir diese Briefe schreibt, der mir alles zerschlägt, was ich mir

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