Die Mondrose
er gern um sich gehabt hatte, war Louis, ihr verschollener Bruder, Mildred hatte es ihr oft genug gesagt. Die vier ungewollten Mädchen erinnerten ihn an das, was er verloren hatte, und rissen kaum verheilte Wunden auf.
Esther wollte nicht die Wunden ihres Vaters aufreißen.
Alles, was sie wollte, war, Geld zu verdienen, um nach Kanada zu gehen und Medizin zu studieren. Und jetzt hatte Will Ackroyd ihr dazu diese wundervolle Möglichkeit eröffnet. Will Ackroyd, Freund und Kollege ihres Vaters, war fast so etwas wie ein Pate für sie – er hatte sie unter seine Fittiche genommen, solange sie denken konnte. Somit gehörte er – neben Lydia, Georgia und Horatio – zu den Menschen, die sie in ihre Pläne eingeweiht hatte, und daran hatte sie gutgetan. An diesem Morgen, auf dem Weg zur Schule, hatte er sie abgefangen und gefragt, ob sie sich als seine Assistentin bei anatomischen Studien ein wenig Geld verdienen wolle. Noch immer vermochte Esther ihr Glück nicht zu fassen. Sie brannte darauf, Lydia davon zu erzählen.
Die Freundin würde sich für sie freuen. In all den Jahren, die sie einander kannten, hatte Lydia sich über jeden Schritt, den Esther tat, gefreut. Als sie ihr erzählt hatte, dass Mildred für ihren Schulbesuch nicht bezahlen würde, hatte sie Esthers Testergebnisse geschönt, damit sie ein Stipendium erhielt, und im Unterricht förderte sie Esther vor allen anderen. Natürlich hätte Lydia sie gern hier in Portsmouth behalten und gesehen, dass sie für das Recht der Frauen auf ein Studium kämpfte. Aber sie verstand auch, dass Esther weder Kraft noch Zeit darauf verwenden konnte, sondern nach Kanada musste, wo Frauen sich die Ausbildung nicht erst mühsam zu erstreiten brauchten. »Ich habe gegen den Tod zu kämpfen«, hatte Esther zu ihr gesagt, und Lydia hatte erwidert: »Dann machst du besser schnell. Wann hat der Tod schon mal Zeit?«
Stets hatte Lydia an allem, was sie betraf, Anteil genommen, als besäße sie kein eigenes Leben. Das aber hatte sich geändert. Esther hob den Kopf, sah über die Tanzfläche und musste lächeln. Einerlei, was böse Zungen schwatzten, die beiden waren das schönste Paar im Saal. Lydias rotes Kleid floss weich bis zum Boden, und dass sie kein Korsett darunter trug, gab ihren Formen etwas Sinnliches, Echtes, das so verboten wie hinreißend war. Horatio, der sie im Arm hielt, tanzte Walzer, als hätte er es erfunden. Wie Horatio tanzte, hatte Esther unzählige Male gesehen, aber die Spur von Demut hatte sie nie zuvor an ihm bemerkt, und die Scharen, die Horatio einen schönen Mann nannten, hatten jetzt erst recht.
Unter den Rippen, dort, wo ihr Herz saß, verspürte Esther einen Stich. Wie es war, einen Mann zu lieben, wusste sie nicht, und dass Lydia stets an erster Stelle sie geliebt hatte, hatte ihr gutgetan. Ich werde ja nur noch ein Jahr hier sein, sagte sie sich. Dann wird Lydia mich vermissen, aber weil sie Horatio hat, wird sie mich weniger vermissen, und das muss mich für sie freuen. Die Musik setzte aus. Applaus brandete auf, ein paar Gläser stießen klirrend aneinander. Dann strömten die Tänzer in kleinen Wellen an ihre Tische zurück.
Nora kam keuchend mit Philip Lewis, Phoebe mit einem seiner Regimentskameraden. Georgia zockelte ohne Tänzer hinterdrein, und erst einige Zeit später kamen Lydia und Horatio. Sie betrugen sich tadellos. Er rückte ihr den Stuhl ab und verneigte sich mit starrem Rücken, und sie setzte sich, ohne ihn zu berühren, und doch taten ihre Blicke alles, was ihre Hände nicht taten, und nur an das zu denken, was sie hätten tun wollen, verursachte Esther ein Kribbeln im Bauch.
Sie wusste nicht, wie es sich anfühlte, einen Mann zu lieben. Sie hatte nie Zeit gehabt, um Romane zu lesen, hatte nie einen anderen Wunsch gehabt, als Ärztin zu werden, und wenn sie die Ehen, die sie kannte, betrachtete, wollte sie um jeden Preis ledig bleiben. Wenn sie aber Lydia und Horatio zusah, durchzuckte sie scharf der Gedanke, dass es schön sein musste. Schön, einen Mann so anzusehen. Und schön zu spüren: Ein Mann sieht mich so an.
Horatio, der Frauen verführte, ohne sie zu berühren, und zitterte, wenn er jemandem die Hand geben musste, verkrampfte seine eleganten Hände ineinander, damit sie Lydia nicht streichelten. Einen Herzschlag lang ließ er seinen verlangenden Blick auf ihr ruhen, dann setzte er sich, beugte den starren Rücken und verschwand zur Hälfte unter dem Tisch. Als er mit zerrauftem Haar wieder auftauchte, hielt
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