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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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einnahm wie sie, denn einen Grund dafür gab es nicht.
    Sergeant Redknapp war so taktlos, nachzufragen, und so knapp wie möglich antwortete Esther ihm. Sie stamme aus ihres Vaters erster Ehe, die Schwestern dagegen aus der zweiten.
    »Aber die Erbin sind doch Sie, oder?«, ließ Redknapp nicht locker.
    Die Erbin? Ohne rechtes Verständnis sah sie Redknapp an. Mit seinem rosigen blond und lockig umrahmten Gesicht galt der junge Offizier zweifellos als attraktiv, und andere Tänzerinnen warfen ihr neidische Blicke zu. In Esthers Augen wirkte er hingegen dümmlich, und seine Fragen berührten sie unangenehm. Heilfroh kehrte sie nach dem Tanz an ihren Tisch zurück, wo sie Lydia allein vorfand. »Du warst ziemlich grob zu Horatio«, sagte sie, ehe die Übrigen wiederkamen.
    »Er wird es verschmerzen«, erwiderte Lydia, mit den Gedanken meilenweit weg.
    Esther schwieg. Was wusste sie schon davon? Sie fühlte sich im Operationssaal zu Hause, nicht auf dem glatten Parkett, auf dem Männer und Frauen einander umschlichen. Während des nächsten Tanzes, den sie mit einem weiteren Offizier absolvierte, sah sie, dass Lydia sich mit Nora unterhielt und dass Nora aufgeblüht wirkte und sogar lachte. Dann kam Andrew Ternan, um den versprochenen Walzer einzufordern. Der arme Tropf hatte dem Anschein nach den ganzen Abend mit keiner anderen getanzt. Er hatte braune Augen, aber seine sprühten keine Funken wie die von Horatio, sondern glichen eher denen des alten Wallachs, auf dem Esther sich manchmal den Strand entlangschaukeln ließ.
    Ich will nett zu ihm sein, beschloss sie, erwiderte sein schüchternes Lächeln und dachte erneut an ihre Examen, an ihre Arbeit bei Will Ackroyd und an Kanada. Mit den schwelgenden Klängen des Walzers schlichen sich jedoch unweigerlich Gedanken an Lydia und Horatio ein, an Blicke, die grobe Worte Lügen straften, und an Hände, die mühsam stillhielten.
    »Darf ich Ihnen das sagen, Miss Esther?«, fragte Andrew Ternan. »Sie sehen sehr schön aus heute Abend.«
    Sie hatte nicht richtig hingehört und erschrak. Was hatte er gesagt?
    »Bitte entschuldigen Sie«, murmelte er und senkte verlegen den Blick. »Ich habe mich wohl nicht gerade geschickt ausgedrückt.«

Kapitel 35
    Southsea bei Portsmouth, Frühling 1883
    S ir?« Raymond Nettlewood schob sein bebrilltes Gesicht in den Spalt, um den er die Tür zu Hectors Arbeitszimmer aufgeschoben hatte. »Ihr Sohn ist jetzt da.«
    Das will ich ihm auch geraten haben, wäre es Hector um ein Haar herausgerutscht. Sein Methusalem von Buchhalter brauchte jedoch keineswegs zu wissen, dass er wie ein Wasserkessel kurz vorm Überkochen stand. »Schicken Sie ihn rein«, knurrte er und beugte sich über die Papiere auf dem Schreibtisch, von denen er an diesem Vormittag keines bearbeitet hatte.
    Nettlewoods Eulengesicht verschwand aus dem Spalt, und kurz darauf trat Seine Hoheit persönlich in den Raum. Horatio Weaver. Der Sohn, den er über den erhabenen Fleischmassen von Bernice, geborene Lewis, gezeugt hatte. Für die Erziehung dieser Ausgeburt hatte er ein Vermögen in den Wind geschrieben und Nächte schlaflos verbracht. Das debil wirkende Schwammgesicht des Kindes würde er nie vergessen. War er nicht der Einzige gewesen, der diesen Witz von einem Sohn nicht aufgegeben hatte? Selbst die prachtvolle Haltung des Kerls war sein Verdienst. Beim ersten Verdacht, der Junge könne den Krummrücken seines Vaters geerbt haben, hatte er ihm Gewichte auf den Kopf legen lassen, wo er ging und stand. In den straffen Schultern und dem stolz gereckten Hals zeigte sich der Erfolg. Der verfluchte Bengel hätte ihm ohne Ende dankbar sein sollen.
    Mein Fleisch und Blut, versuchte Hector sich begreiflich zu machen, aber die Botschaft kam nicht an. Hatte er sich nicht einen Sohn gewünscht, der licht war wie der Tag, hatte er nicht aus eben diesem Grund die unsägliche Bernice geheiratet? Sein Sohn hatte ein Paar Brauen wie der Teufel, Haar wie mit Tinte gefärbt, und in den spöttisch gekräuselten Lippen, die Weiber sinnlich nannten, erkannte Hector das tückische Erbe von Polly Pierson.
    »Du wolltest mich sprechen«, sagte sein Sohn so herablassend, als würde er einem Nichts eine Audienz gewähren.
    »In der Tat, das wollte ich. Setz dich.«
    »Ich bin gut zu Fuß«, erwiderte Horatio und blieb stehen.
    »Ist es eigentlich niemals möglich, mit dir wie mit einem vernünftigen Menschen zu reden?«
    »Das käme auf einen Versuch an«, antwortete Horatio, der noch immer

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