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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Wort. »Bei dir gibt es nichts Dunkles, Hassenswertes, du kannst auf dein Leben stolz sein.«
    Sie ging zu ihm, sah, wie er zurückwich, und streckte dennoch die Hand nach der gläsernen Wand aus. »Solltest du mir nicht erlauben, darüber selbst zu entscheiden? Wenn du mich das Dunkle nicht sehen lässt, wie soll ich dann wissen, ob ich es ertrage?«
    Er wich zurück, bis er mit dem Rücken zur Wand stand. »Ich bin als Idiot zur Welt gekommen«, sprach er ohne Ausdruck durch die gläserne Wand. »Ich konnte nicht sprechen und vermutlich auch nicht denken. Wäre es meinem Vater nicht so peinlich gewesen, hätte er mich in eine Anstalt gesperrt. Stattdessen hoffte er, es ließe sich zumindest eine Spur Verstand in mich hineinprügeln. Ich habe Sukie eingeladen, weil ich es ihr schulde. Sie hat einmal zu meinem Vater gesagt, er solle Erbarmen haben. Dafür hat mein Vater dem Erzieher den Stock weggenommen und nicht mich, sondern sie geschlagen.«
    Lydia stand still und hörte ihrem Atem zu. Es ist noch nicht zu spät, beschwor sie eine Stimme in ihr. Dem hier bist du nicht gewachsen. Verlass das Haus und komm nie wieder. Lydia verließ nicht das Haus, sondern machte einen Schritt auf ihn zu. Zwischen ihnen erhob sich das Glas, und Horatio dahinter war so allein, dass es ihr das Herz zusammenzog. »Hatte er irgendwann Erfolg?«, fragte sie stimmlos. »Hat er dich zum Sprechen geprügelt?«
    »Nein.«
    »Wie hast du es gelernt?«
    »Gar nicht, glaube ich. Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich es konnte, wenn mein Vater nicht dabei war.«
    »Und dein Vater? Er hat nicht aufgehört, nicht wahr?«
    »Doch«, sagte Horatio und starrte an ihr vorbei. »Jetzt muss er aufhören.«
    Das, was Männer Tapferkeit nannten und für das sie sich Orden an die Brust hefteten, war Lydia stets erbärmlich und hohl erschienen. Den Mann, der vor ihr stand, fand sie hingegen tapfer ohnegleichen. Er hatte als Kind gelernt, sich unantastbar zu machen, um ein Stück seiner Würde zu bewahren, und doch brachte er den Mut auf, sich ihr auszuliefern. Ob sie den größten Fehler ihres Lebens beging, war ihr einerlei.
    »Ich will kein Mitleid von dir«, knurrte er.
    »Keine Sorge«, sagte sie, »du bekommst auch keines.« Als sie den letzten Schritt auf ihn zumachte, glaubte sie Glas splittern zu hören, und als sie die Hände hob, um ihm die Schultern zu streicheln, war ihr, als würde sie Scherben von ihm abstreichen. Weil sie ohnehin dabei war und weil ihm Schweiß in Strömen die Stirn hinunterlief, öffnete sie ihm Binder und Kragen und strich auch den Stoff noch weg. Seine Schlüsselbeine, die jäh entblößt vor ihr lagen, jagten ihr ein Entzücken durch den Leib. »Horatio«, rief sie, umfasste sein Kinn und drehte sein Gesicht zu sich. »Hörst du mir zu? Ich liebe dich.«
    Sie umarmte ihn, legte ihre Lippen auf seine und küsste ihn, bis er sie wiederküsste. In dieser Nacht hätte sie bei ihm bleiben wollen, was immer irgendwer darüber dachte und sogar, wenn er ihr ein Kind gemacht hätte. Er aber lachte und schickte sie nach Hause. »Lass mich doch einmal in meinem Leben ein Mann mit Anstand sein.«
    Sie würden es nicht leicht haben. Das Gepäck, das andere ihnen aufgeladen hatten, würde schwer zu schleppen sein und sie manchmal niederdrücken, aber zum ersten Mal fand Lydia, dass es eine Sünde sei, es nicht zu versuchen. Als ihre Mutter an diesem Abend in ihre Litanei ausbrach und sie ihr armes Mädchen nannte, bat Lydia sie, aufzuhören. »Ich bin kein armes Mädchen, Mutter. Und ich wäre dir dankbar, wenn du Horatio zumindest die Chance gäbest, dich für sich zu gewinnen.«
    »Ach, ich finde die ganze Familie zum Fürchten«, sagte ihre Mutter. »Da hast du diese Eltern, die zur Hochzeit des Sohnes nicht eingeladen werden und vor denen die Tochter aus dem Haus flieht. Da hast du diese unglaubliche Tante, von der es heißt, sie habe mit dem eigenen Neffen ein Verhältnis …«
    »Das ist vorbei«, unterbrach Lydia sie scharf. Es war erst Stunden her, dass Horatio es ihr gestanden hatte, den Zwang, Maria Lewis zu unterwerfen und Liebesschwüre stammeln zu hören, Maria Lewis, die sich jahrelang am Treiben seines Vaters ergötzt und in der Stadt verbreitet hatte, Hector Weavers Sohn sei schwachsinnig. Ob er auf ewig so weitermachen werde, hatte Lydia ihn gefragt, ob er sich an jedem, der dieser Erziehung des Grauens beigewohnt hatte, rächen und damit sein Leben vergiften müsse? »Nein«, hatte er gesagt, »das ist vorbei. Was

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