Die Mondrose
der Deckung.
»Horatio!«
»Nein, sie ist keine Hure«, sagte er. »Nur eine Frau, die eine ganze Stadt zur Hure erklärt hat. Sie wurde mit siebzehn an einen reichen Mann verhökert und beging die unverzeihliche Sünde, einen anderen zu lieben. Vielleicht hat sie ihn nicht einmal geliebt, sondern sich nach nichts als ein bisschen Wärme gesehnt.«
»Und der Mann?«
»Der war Offizier und wurde irgendwann versetzt. Sie dagegen war gezwungen zu bleiben. Es gab eine schmutzige Scheidung und einen prächtigen Skandal, in dem jeder wohlanständige Bürger nach Herzenslust die Nase rümpfen und mit dem Finger auf sie zeigen konnte. Polly Pierson landete ohne einen Penny auf der Straße und durfte ihren Sohn nicht mehr sehen. George Weaver heiratete die schöne Amelia, die ihm den noch schöneren Hyperion gebar. Wir verstehen uns darauf, eine Frau für einen Fehltritt zu bestrafen, oder nicht? Wir schlagen sie nieder und sorgen dafür, dass sie nie wieder auf die Beine kommt.«
Lydia brauchte einige Zeit, um sich von ihrer Erschütterung zu erholen. »Woher weißt du das alles?«, fragte sie dann. »Hat dein Vater es dir erzählt?«
»Gott bewahre.« Hämisch verzog er den Mund. »Mein Vater erlaubt nicht, dass der Name der Hure in seinem Haus genannt wird. Ich weiß es, weil ich sie ab und an besuche.«
»Und warum tust du das?«
»Anfangs, um meinen Vater zur Weißglut zu treiben.« Sein Grinsen wurde noch hämischer. »Aber inzwischen mag ich die Alte. Wir passen zusammen. Die Hure und der Satan, einer so schwarz und hässlich wie der andere.«
»Hör auf damit«, sagte Lydia. »So hart es dich ankommen mag, du bist nicht einmal halb so schlecht, wie du dich machst.«
Als sie ihn in die Arme nahm, ließ er sich regelrecht fallen. Lydia wollte sich um keinen Preis einer trügerischen Hoffnung hingeben, aber zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie vielleicht doch nicht den größten Fehler ihres Lebens beging.
Er kaufte ein schmales Reihenhaus in einer Seitenstraße, deren Fahrweg Kastanienbäume säumten. Es besaß vier Schlafzimmer und einen Garten, in den ein Tisch, vier Stühle und eine Magnolie passten. So fremd es Lydia war, ihr Herz an Besitz zu hängen, so wenig konnte sie dem kleinen Haus widerstehen. In ihr lebte noch immer das zerrupfte Kind aus dem Arbeitshaus, das außer einem Abakus nichts auf der Welt besaß. Sollte sie jetzt wirklich zu den Menschen gehören, die Abend für Abend in die Geborgenheit ihrer eigenen Wände heimkehrten und deren Leben hinter Riegeln beschützt war?
Horatio zog in das Haus, noch während es hergerichtet wurde, um die Miete für die Wohnung zu sparen. Vier Wochen vor der Hochzeit saß Lydia mit ihm in dem noch kahlen Raum, den sie Stube und er Salon nannte, über der Liste der Gäste. Zu Horatios Verblüffung hatten so viele zugesagt, dass das kleine Haus in allen Nähten ächzen würde. Hyperion und Mildred mit ihren Töchtern, Lydias Kolleginnen, ein paar Herren, die Horatio von der Universität kannte, und die Schar ihrer Kampfgefährtinnen, von denen die meisten nicht glauben konnten, dass es ihr mit dieser Hochzeit ernst war. An einem Namen blieb Lydias Finger hängen. »Wer ist Susan Ralph?«
Horatio vollführte eine Bewegung mit dem Kopf, die ihr inzwischen vertraut war. Als würde er sich ducken. »Mein Kindermädchen. Sie kommt mit einem Herrn namens March und zwei Kindern, und ich fürchte, eine ordentliche Heiratsurkunde besitzt keiner von ihnen. Stört es dich?«
»Natürlich nicht. Es wundert mich nur. Von dem Erbsohn eines Industriellen hätte ich anderes erwartet, als dass er sein Kindermädchen zu seiner Hochzeit einlädt.«
»Ich bin nicht der Erbsohn eines Industriellen«, protestierte er gekränkt. »Ich bin der blöde Kerl, der dich zum Wahnsinn treibt, weil er dich so sehr liebt.«
»Du treibst mich zum Wahnsinn, weil du mir ausweichst, du blöder Kerl. Warum lädst du dein Kindermädchen zur Hochzeit ein?«
»Das willst du nicht wissen«, sagte Horatio, und die gläsernen Wände schlossen sich um ihn.
»Ich pflege keine Fragen zu stellen, wenn ich etwas nicht wissen will«, versetzte Lydia.
»Nun schön. Aber ich will dir nichts darüber sagen.«
Die gläsernen Wände schwollen. Todesmutig rannte Lydia mit der Stirn dagegen an. »Ich denke, ich soll deine Frau werden. Habe ich kein Recht darauf, dich kennenzulernen? Ich habe mein Leben vor dir ausgebreitet wie ein offenes Buch …«
»Weil du nichts zu verbergen hast«, fuhr er ihr ins
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