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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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soll ich mit der Vergangenheit, wenn ich dich in meiner Zukunft habe?«
    »Es ist vorbei«, wiederholte ihre Mutter, »also ist es wahr. Und was noch? Hatte er mit dieser entsetzlichen Mildred, die irgendwann deine Freundin Esther zerstören wird, auch ein Verhältnis? Dass Esthers Mutter sich einfach aus dem Staub gemacht hat, ist unverzeihlich, aber verdenken kann ich es ihr bei der Familie nicht.«
    Ich auch nicht, dachte Lydia. Aber es ist ja nicht die Familie, mit der ich leben muss. Es sind die Menschen, die ich liebe. Horatio und Esther. Und Nora, fügte sie entschlossen hinzu. Horatio hatte zu ihr gesagt, sie habe Esther gerettet. »Von uns hat doch keiner Esther beigestanden, und ihr Vater mag ein Held der Heilkunst sein, aber um seine Kinder schert er sich bis heute nicht. Hätte sie dich nicht gehabt, dann hätte Mildred aus ihr gemacht, was sie aus Phoebe und Chastity gemacht hat – zwei Duckmäuser voller Angst vor dem Leben. Ich wünschte, du könntest auch Nora helfen. Du tust Menschen gut.«
    Weil Menschen gut zu mir waren, dachte Lydia und schlang jäh die Arme um ihre Mutter. »Sei ein bisschen gut zu Horatio, ja? Ihr habt nämlich etwas gemeinsam – ihr beide liebt mich.«
    »Wenn dieser Kerl mich je davon überzeugen sollte, dass wir das gemeinsam haben, bin ich von mir aus sogar gut zu ihm«, brummte ihre Mutter, küsste Lydia auf die Stirn und stand auf, um den Tisch abzuräumen.

    In der letzten Woche vor der Hochzeit wurde das Haus fertig. Es war durchgehend mit Öllampen ausgestattet und an keine Gasleitung angeschlossen. Als Lydia Horatio fragte, ob er damit seinen Vater treffen wolle, schüttelte er den Kopf. »Ich halte Gas für gefährlich«, sagte er. »Zumindest in der Form, wie wir es heute nutzen. Hast du dich schon einmal gefragt, warum so viele Leute Dinge sehen, die es nicht gibt – weißvermummte Gespenster, Waldgeister, Nachtmahre? Wenn du mich fragst, sind all diese Leute nicht reif für die Anstalt, sondern leben in der Nähe einer Leitung, aus der Gas austritt. Ich bin benebelt genug von dir, ich brauche kein Gas, das mir das Hirn trübt. Wenn wir vorankommen wollen, tun wir gut daran, das Leben mit klarem Blick zu betrachten, nicht es in Schwaden zu hüllen.«
    Es war eine Seite an ihm, die sie begeisterte, ein Feld, über das sie Hand in Hand gingen – sein Glaube an Fortschritt und Veränderung, an eine Gesellschaft, die sich zum Besseren wandelte. Sie führten lange Gespräche, in denen sie ihm von den Reformen des Schulsystems berichtete und er ihr von seinen Versuchen mit Elektrifizierung, mit der man bereits ein Fußballspiel in Sheffield unter strahlendem Flutlicht ausgetragen hatte und die gefahrloser, billiger und kraftvoller war als Gas. Manchmal gerieten sie dabei ins Schwärmen von einer Zukunft, in der jedem Menschen ein erfülltes Leben offenstand.
    Auch wenn sie es selbst kaum glaubte, begann sie sich auf die Abende in ihrem Haus zu freuen, auf endloses Reden und Streiten, auf die Herausforderung, die ein kluger Mann einer klugen Frau bieten konnte, wenn er sie ernst nahm und achtete.
    Die Nacht vor der Hochzeit verbrachte sie noch einmal in schlafloser Todesangst, als stünde ihre Hinrichtung bevor. Zur Kapelle fuhr sie schreckstarr. Sie trug ein schmuckloses dunkles Tageskleid und Horatio den schwarzen Cut, in dem er überall hinging. Vaterlos, wie sie war, schritt sie allein durch den Gang, und der Mann, der der ihre werden sollte, stand allein vor dem Altar. Als sie ihm nahe kam, streckte er ihr beide Hände entgegen und atmete zutiefst erleichtert auf. Das trug sie durch die Zeremonie, die ihr fremd und bedrohlich erschien, und hinterher warteten auf den Stufen ihre Freunde, jubelten, als sie aus der Kirche traten, und Esther und Nora, ihre Brautjungfern, sprangen zu ihr und umarmten sie. »Wenn Sie meinem Mädchen ein Leid antun, bringe ich Sie um«, sagte ihre Mutter zu Horatio, statt ihm zu gratulieren.
    »Ich bitte darum«, erwiderte Horatio. »Was glauben Sie, weshalb ich Sie im Haus haben wollte?«
    Ihre Mutter sah ihn lange an, dann sagte sie zu Lydia: »Gott behüte dich. Dieser Mann ist gefährlicher als die Bräune, aber die hast du immerhin überlebt.«
    Sie hatte sich gewünscht, für Flitterwochen kein Geld zu vergeuden und die Hochzeitsnacht in ihrem Haus zu verbringen. Nora und ihre Mutter sollten erst am Morgen einziehen. Ein Wolkenbruch ergoss sich, als sie die letzten Gäste ans Tor gebracht hatten und ihnen nachwinkten, bis sie

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