Die Mondrose
war es ihm, als hätte er ohne sie zu kennen nicht gelebt.
Auf manche Fragen wollte sie ihm keine Antwort geben. Wenn er sie nach ihrer Familie fragte, wich sie ihm aus oder schwieg, und eines Abends sagte sie: »Ich will nicht davon sprechen, Charles. Es ist, als ob ich keine Familie hätte.«
Charles stellte fest, dass es ihm nicht anders ging. Von seinem Vater und Hedwig, die er im Stich gelassen hatte, wollte er nicht sprechen. »Wird denn auch niemand nach dir suchen?«, fragte er, weil die Vorstellung, jemand könne auftauchen und sie zurückfordern, ihn mit eisiger Furcht erfüllte.
»Ich glaub nicht«, erwiderte Amelia. »Ich bin ihnen furchtbar zur Last gefallen, und jetzt sind sie froh, mich los zu sein.«
Er atmete auf. Genauso würde sein Vater es auch empfinden – nur brauchte der Vater ihn vielleicht für Hedwig und suchte ihn am Ende doch? »Hör zu, Amelia«, sagte er. »Warum schreiben wir nicht beide unseren Familien, dass es uns wohl ergeht und wir nicht mehr zurückkommen? Dann brauchen wir uns nicht darum zu sorgen und können alles, was vergangen ist, vergessen.«
Amelia sträubte sich. Der Gedanke schien ihr geradezu Angst einzujagen. Letzten Endes überzeugte er sie aber, dass sie mehr Angst haben mussten, wenn ihre Familien sich auf die Suche machten, also willigte sie schließlich ein. Sie nahmen sich jeder einen Briefbogen vor, doch das Schreiben schoben sie noch tagelang auf. An dem Abend, nachdem er die beiden Briefe endlich abgesandt hatte, war ihnen zumute, als hätten sie etwas zu feiern. Es war der kälteste Winter in der Geschichte Hampshires gewesen, und im April gab es noch einmal Frost. Charles ließ von der Wirtin zwei Becher Tee mit echtem Rum bereiten, mit denen lagerten sie auf dem Bett und führten ihre Gespräche. Manchmal lachten sie auch, über kleine Dinge, über die wohl kein anderer gelacht hätte. Als das Feuer heruntergebrannt war, holte Charles die Decke, unter der er nachts schlief, und breitete sie über Amelia, und als das nicht genügte, drückte er sie an sich, um sie zu wärmen. Seine Zähne klapperten, und seine Finger waren vor Kälte steif, und dennoch genoss er die Nacht wie keine zuvor.
»Charles«, sagte Amelia, nachdem auch ihre Kerze heruntergebrannt war, »dir ist kalt. Komm unter die Decken.«
»Willst du das wirklich?«
Sie hob die Zipfel der Decken hoch. Er warf Schuhe und Jacke weg und kroch zu ihr. Es war, als stiege er neben ihr in eine Höhle, von der sonst niemand wusste. Sie schmiegte ihren kleinen warmen Körper an ihn, und er legte die Arme um sie und war still vor Glück. Von da an schliefen sie jede Nacht in ihrer Höhle, ihre Körper so vertraut wie ihre Seelen, und als sie einander schließlich die Liebe beibrachten, geschah es so selbstverständlich, wie sie begonnen hatten miteinander zu sprechen.
Es war nichts Schlechtes daran und nichts, das ihnen Angst machte. Sie waren wie ein einziges Wesen, und nur, dass sie sich am Morgen trennen mussten, bereitete ihnen Qual.
Kapitel 45
Saisonbeginn
D ass sie krank war, wusste Hedwig seit langem. Nach jenem Ereignis im Herbst aber erwachte in ihr der Wunsch, gesund zu werden. Zu sein wie andere Mädchen, die auf Gesellschaften gingen und Herren vorgestellt wurden, die auf neue Gesellschaften gingen und die Herren wiedersahen. Dabei war sie überhaupt kein Mädchen mehr. Sie war eine Frau von siebenundzwanzig Jahren, einem Alter, in dem andere verheiratet waren, Kinder hatten und in dem ihre Mutter schon tot gewesen war. Dass das alles für sie erreichbar war, hatte die kranke Hedwig nie in Erwägung gezogen, sondern Geoffrey’s Cordial geschluckt und so still wie möglich vor sich hin gelebt. Drei Tage nach ihrer kopflosen Flucht zum Bahnhof, nach Charles’ Verschwinden und ihrer Nacht im fremden Haus sagte sie jedoch zu ihrem Onkel: »Ich will gesund werden, Onkel Victor. Ich will leben wie andere Mädchen.«
Sukie hatte ihm zuweilen vorgeworfen, er behandle Hedwig falsch. Indem er sie in einen Kokon einspinne und vor dem Leben abschirme, mache er ihre Krankheit nur noch schlimmer. Stattdessen müsse er sie ermuntern, das Haus zu verlassen und sich unter Menschen zu begeben, damit sie lerne, dass ihr keine Gefahr drohe. Wann immer Sukie davon angefangen hatte, war Onkel Victor wütend geworden, bis sie es schließlich aufgab. Sie könne sich über das, was Hedwig durchgemacht habe, kein Urteil anmaßen, hatte er geschrien, und wenn sie nur im mindesten fähig zu Mitleid wäre,
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