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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Mädchen gewachsen sein? Er lernte gerade erst, sein Leben in die Hand zu nehmen, hatte eine Arbeit gefunden, wenn auch keine gut bezahlte, hatte sich ein Zimmer gemietet und war an der Hartley Institution, die seit neuestem Hartley College hieß und beständig an Ansehen gewann, angenommen worden. Damit wollte er sich zufriedengeben. Dass er sich nach einem Menschen sehnte, dass zuweilen in der Nacht die Einsamkeit die Kehle zuschnürte, stand auf einem anderen Blatt.
    Und dann hatte er sie gefunden. Amelia. Dass sie ihm förmlich vor die Füße gefallen war und dass ausgerechnet er sie hatte retten dürfen, empfand er als Zeichen des Himmels. Ihm war verziehen worden, dass er seinen Vater und Hedwig im Stich gelassen hatte. Sein Leben fing neu an.
    Unter allen Mädchen, die anzusprechen er nie den Mut besessen hätte, war sie die Schönste. Die Einzige. Wenn er sie nicht bei sich haben konnte, wollte er keine. Sie schlief in seinem Bett, und er schlief am anderen Ende des Zimmers auf dem Boden. Er schwor sich, er würde sie weder anrühren noch im Schlaf betrachten, ohne dass sie es ihm erlaubte, und er hielt sich daran. Dennoch war sie die seine. Er hatte ihr das Leben gerettet.
    In den ersten Tagen hatte er alles versucht, um der Verbrecher, die ihr das angetan hatten, habhaft zu werden. Bald schon musste er jedoch einsehen, was er ohnehin hätte wissen können – seine Bemühung war sinnlos. Für ein Mädchen von der Straße, das Prügel bezogen hatte, interessierten sich weder Polizei noch Justiz.
    Dafür, dass eben dies sich änderte, lebte und lernte er. Seit er lesen konnte, hatte Charles sich mit Kriminalität beschäftigt, namentlich mit der Gewalt, die ein Mensch dem anderen zufügte, weil er selbst sich in höchster Not befand. Mord, Raub, Vergewaltigung, Totschlag – um die Verhältnisse umzukehren, die diesen Verbrechen einen Nährboden gaben, wollte er Jura studieren. Vorerst aber wollte er etwas anderes – Amelia gesund pflegen, Amelia über ihr Leid trösten und Amelia lieben.
    Sie mochte Charles’ Lied vom Mond. Wenn er es sang, entspannten sich ihre Züge, und auf ihre Lippen trat etwas wie ein Lächeln, wie es bei Hedwig gewesen war. Charles, der sich als Junge innig gewünscht hatte, jemand möge das Lied für ihn singen, sang es jetzt für sie beide. Irgendwann wagte er dabei seine Hand über ihre zu legen, und als er es das nächste Mal sang, schob sie ihre in seine. Er hätte jubeln mögen – sie begann ihm zu vertrauen. Erst nannte sie ihm ihren Namen, dann ließ sie ihn wissen, dass er die Wirtin nicht mehr bezahlen musste, um bei ihr zu wachen. Darin war sie anders als Hedwig, obgleich sie in ihrer Schutzbedürftigkeit so sehr an sie erinnerte. Solange sie wusste, dass er am Abend zurückkam, war sie es zufrieden, in seinem Zimmer allein zu bleiben.
    Die Freude auf den Abend beflügelte ihn. Einer seiner Dozenten wollte seine Abhandlung zum Ripper-Fall in ein Dossier aufnehmen und zahlte ihm ein Honorar dafür. Nach dem Unterricht kaufte er Schokolade, Portwein und ein Paar wollene Bettsocken, weil Amelia selbst in den dicksten Decken fror. Es war das erste Geschenk, das er ihr machte.
    Sie begannen miteinander zu sprechen. Nie hatte Charles Gespräche genossen, wie er sie mit Amelia genoss. Sie sprach wenig, doch sie vermochte in einer Weise zuzuhören und hin und wieder eine Frage zu stellen, die ihm bewusst machte, dass sie das, was er sagte, wahrhaftig interessierte. Er erzählte ihr von seinen Studien, von Büchern, die er las, und von Gedanken, die ihm dazu kamen, und sie lag still da und sah ihn mit ihren schönen Augen an. Einmal, nachdem er ihr anhand der Londoner Kriminalstatistik erklärt hatte, wie Armut Menschen zu häuslicher Gewalt trieb, hob sie den Kopf und sagte: »Du bist so klug, Charles. Eines Tages wirst du ein großer Gelehrter sein, und dann wirst du nicht mehr mit einem dummen Mädchen hier leben wollen.«
    Seine Mutter hatte ihm gesagt, er sei klug, und seine Lehrer hatten dasselbe gesagt, aber Charles war nie in der Lage gewesen, es zu glauben. Wie konnte ein Junge klug sein, von dem der eigene Vater nichts hielt? Jetzt, da Amelia es sagte, wurde es wahr. Für sie war er klug. Er war ihr Held, dem sie Wunder zutraute. Er drückte ihre Hand und sagte: »Du bist kein dummes Mädchen, sondern das klügste von allen.« Obwohl er kaum Mädchen traf, war er dessen sicher. »Ich will immer mit dir leben«, versprach er. Er kannte sie erst ein paar Wochen, und doch

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