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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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würde sie keinen grausamen Unsinn schwatzen, sondern wie er alles daransetzen, seine Kleine zu schützen.
    Hedwig hatte sich während dieser Wortgefechte hinter seinem Rücken verkrochen und ihn im Stillen angefleht, Sukie nur ja nie nachzugeben und nie von ihr zu verlangen, was sie vorschlug. Jetzt aber fragte sie sich, ob die Stiefmutter nicht recht gehabt hatte. Hätte sie gelernt, sich Schritt um Schritt hinauszuwagen, hätte sie womöglich ein normales Leben führen können, doch sie war Onkel Victors Kleine geblieben und hatte ihre Welt auf die vier Wände des Hauses beschränkt.
    Ja, auf jener Hochzeit war sie gewesen, doch an die Menschen erinnerte sie sich nicht. Nur an Angst. Daran, dass Onkel Victor auf einmal zu ihr gesagt hatte, er müsse nachdenken und Charles solle auf sie achten, daran, dass sie sich an Charles’ Arm geklammert und versucht hatte, sich hinter seinem Rücken zu verbergen. Hätte sie als Kind gelernt, das Grauen der Vergangenheit zu überwinden, hätte sie auf jener Hochzeit womöglich tanzen können. Womöglich wäre es gar keine fremde Hochzeit gewesen, sondern ihre eigene. Sie wollte gesund sein. Sie wollte nicht länger Onkel Victors Kleine bleiben. Sie wollte, auch wenn es um Jahre zu spät war, aus dem Haus gehen und Horatio Weaver wiedersehen.
    Als sie es Onkel Victor sagte, sah er sie an, als würde er seinen Ohren nicht trauen. Dann kam er zu ihr und schloss sie in die Arme. »Ich habe Angst um dich«, sagte er und presste sie an sich, bis es weh tat. »Ich wünsche dir nichts so sehr wie ein glückliches Leben, aber ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas geschieht. Ich habe deine Mutter verloren. Du bist alles, was ich habe.«
    Sie musste ihm versprechen, nichts zu tun, das sie in Gefahr brachte. Im Gegenzug versprach er ihr, noch einmal auf sämtlichen Wegen nach einem Arzt zu suchen, der ihr Leiden heilen könnte. Nur ans Asylum wollte er sich um keinen Preis wenden, und darin stimmte sie ihm zu. Das erst vor zehn Jahren errichtete Asylum, die Irrenanstalt von Portsmouth, war ihrer beider Schreckgespenst. Wer dort eingeliefert wurde, kam nicht mehr heraus, sondern wurde mit Zwangsjacken, Nesselpeitschen, Drehstühlen und Dunkelzellen so lange misshandelt, bis sein Geist gebrochen war. Onkel Victor würde sich privat nach einem Arzt umtun, wie er es in der Vergangenheit schon so oft getan hatte.
    Wieder kamen und gingen die Doktoren, verschrieben Mittel, verordneten heiße Bäder, Wanderungen und Diätkuren, ohne aber Hedwig zu helfen. Sie versuchte es aus eigener Kraft. Stellte sich todesmutig der Angst und verließ das Haus. Es war sinnlos. Nach den ersten Schritten musste sie umkehren, weil die Angst über ihr zusammenschlug und ihr bisschen Mut unter sich begrub. Sie versuchte es wieder. Zwang sich, an Horatio Weaver zu denken, nicht an das Grauen, das hinter der Tür lauerte, doch es half alles nicht. Verzweiflung ergriff von ihr Besitz, und sie verfiel in Apathie. Nichts würde sie je gesund machen. Bis an ihr Lebensende würde sie überallhin mit Onkel Victor gehen müssen, dazu Geoffrey’s Cordial schlucken, um den Tag zu überstehen, und den Mann, von dem sie träumte, vergessen.
    Onkel Victor war nicht weniger verzweifelt. »Ich würde alles tun, um dir zu helfen«, schwor er ihr. Morgen für Morgen packte er fürsorglich die Tasche mit allem, was sie tagsüber brauchen könnte, und nahm sie mit auf seinen Weg. Er trennte sich nie von ihr, auch wenn die Leute sich wunderten. Und dann kam ihr der Zufall zu Hilfe und bescherte ihr, was sie sich von ganzem Herzen wünschte.
    Es war Saisonbeginn. Nach der Arbeit im neuen Hotel musste Onkel Victor zum Bahnhof, um eine Handvoll Gäste abzuholen. In ihrer zweispännigen offenen Kalesche, auf der in roter Schrift der Name »March – Hotelpensionen« gemalt war, warteten sie in der Abendsonne. Dröhnend donnerte ein Zug ein, und gleich darauf folgte der Strom der Reisenden, der aus der Halle auf die Straße schwappte. Hedwig wollte nicht hinsehen, sie wusste aus Erfahrung, dass der Anblick von Menschenmassen einen Anfall auslösen konnte, doch auf einmal kam ihr der Gedanke, Charles könne unter den Heimkehrern sein. Sie hatte Onkel Victor mehrmals gefragt, ob er Charles nicht vermisse, ob er ihn nicht suchen lassen wolle, und er hatte jedes Mal zur Antwort gegeben: »Ich vermisse gar nichts. Ich habe ja dich.«
    Aber sie vermisste Charles. Dass er durch ihre Schuld sein Zuhause verloren hatte, quälte sie. War

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