Die Mondrose
traditioneller Eleganz, von Pioniergeist und Größenwahn.
Lenz erläuterte ihnen die Statik des schwimmenden Riesenpalastes, die Vierzylinder-Kolbendampfmaschinen des Antriebs und vor allem das einzigartige System der Schotten, der wasserdichten, quer verlaufenden Kammern, die sich durch den Schiffsrumpf zogen und von der Brücke aus verschlossen werden konnten. Dieses Wunder moderner Elektronik war es, das die Titanic unsinkbar machte. Drang aus irgendeinem Grund Wasser ein, so genügte dem Kapitän ein Knopfdruck, um das entsprechende Schott zu schließen und sein Schiff vor Schaden zu bewahren. Selene war überwältigt. Nach Beendigung eines jeden Vortrags blieb sie noch ewig mit Lenz vor dem Kartentisch stehen, beugte sich über Blaupausen und ließ sich erklären, wie bestechend simpel das System funktionierte. Wenn die Saaldiener sie schließlich hinauswarfen, zogen sie in die Kantine um und fuhren fort, sich die Köpfe heißzureden.
Binnen kurzem erfuhr sie, dass Lenz auf Einladung ihres Onkels hier war und dass der Onkel dem Beraterstab angehörte, der das Schottensystem für Harland & Wolff entwickelt hatte. Es überraschte sie kaum. Der Onkel hatte seine Finger in allem und jedem. Leider blieb er dabei ein Geheimniskrämer – was man ihn nicht ausdrücklich fragte, bekam man nicht erzählt.
»Wie ich sehe, liegt das technische Genie in der Familie«, sagte Lenz und trieb Selene die Röte in die Wangen. Um zu verbergen, wie sein Kompliment sie freute, wechselte sie das Thema.
»Woher kommen Sie eigentlich? Nicht aus Belfast, so viel steht fest.«
»Doch, daher komme ich schon, ich bin nur nicht dort geboren worden.«
»Das ist Haarspalterei. Behalten Sie’s für sich, wenn Sie wollen. So brennend interessiert es mich nicht.«
»Aber ich will es gar nicht für mich behalten«, erwiderte er. »Und ich wünschte, es würde Sie so sehr interessieren wie my lady Titanic.«
Selene musste lachen. »Dann müssten Sie sich mindestens vier Schornsteine zulegen, einen allein zur Zierde. Und ein wasserdichtes elektronisches Schottensystem.«
»Mein Schottensystem ist so wasserdicht, dass die Titanic vor Neid ergrünen würde. Nur mit der Elektronik hapert es.« Er legte den Kopf schräg und gab sich Mühe, sie treuherzig anzusehen.
»Jetzt sagen Sie schon, wo Sie geboren worden sind«, gab Selene sich geschlagen.
»Genau weiß ich es nicht«, behauptete er, »obwohl ich zweifellos dabei gewesen bin. Auf meinem Taufschein steht Lübeck – immerhin eine respektable Hansestadt.«
»Und wo ist das?«
»Auf der anderen Seite«, sagte er und wies vage in Richtung Solent. »An der deutschen Ostseeküste.«
Er war ihr ein Rätsel. Er war Deutscher, arbeitete für Harland & Wolff und trieb sich mit einem Seesack in Portsmouth herum. An zwei Abenden gingen sie mit Annette aus, die heftig mit ihm flirtete und hinterher zu Selene sagte: »Ich hoffe, Adonis ist nicht verheiratet. Was seine Familie betrifft, so hält er sich verdächtig bedeckt.«
»Ich kann ihn fragen, wenn es dir so sehr am Herzen liegt«, erwiderte Selene. »Du hast es wirklich auf ihn abgesehen, oder?«
Annette hob eine ihrer Brauen, eine Geste, die ihr umwerfend stand. »Du etwa nicht?«
Selene hatte es nicht auf Thomas Lenz, sondern auf RMS Titanic abgesehen. Sooft sie mit Lenz zusammen war, packte sie das erregende Gefühl, zumindest für Augenblicke an dem Traumschiff teilzuhaben. Er war nicht verheiratet. Von seiner Familie erzählte er nicht, weil er keine besaß. Sein Vater war vor seiner Geburt gestorben, und nachdem seine Mutter ebenfalls gestorben war, hatte sein Großvater ihn aufgezogen. »Der alte Herr lebt auch nicht mehr. Wie Sie sehen, ist meine Herkunft nicht sehr unterhaltsam. Ich könnte Ihnen höchstens erzählen, dass mein Vater Sozialdemokrat war und dass ich auch einer bin, aber ein bisschen fürchte ich, Sie könnten vor Schreck nicht mehr mit mir reden.«
»Das schreckt mich nicht«, erwiderte Selene kaltschnäuzig. »Mein Onkel sitzt im Ortsvorstand der Labour Party.«
»Ich weiß. Ihr Onkel ist ein toller Kerl.«
»Falls Sie ihn käuflich erwerben wollen, machen Sie sich keine Hoffnung. Über den Rest meiner Familie könnten wir allerdings in Verhandlung treten.« Gleich darauf bereute sie den dummen Witz. Ihre Familie war ihr Hort und Halt, und ihre Mutter, so lästig ihr deren Fürsorge fiel, war der liebevollste Mensch auf der Welt. Lenz brachte sie dazu, von ihren Verwandten zu erzählen, von Tante Georgia,
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