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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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dieses unermüdliche Herz. Wie sollen wir ohne es auskommen?« Dieser Mann, Ackroyd, war keine fünfzehn Jahre jünger als Hyperion, aber er sprach von ihm noch immer wie ein Junge von seinem angehimmelten Vater.
    Für das Bett, auf dem er lag, erschien Hyperion zu klein. War das der Mann, der ihr Leben bestimmt hatte? Er war ein so winziger, so zarter Mann, als hätte ein Holzschnitzer eine Miniaturausgabe von einem Menschen gefertigt. Seine Haut war nahezu durchsichtig, das bisschen Blut, das noch in ihm war, schimmerte rosa durch Weiß. Einzig die Frau, die ihn geliebt hatte, vermochte noch zu sehen, wie schön er gewesen war – das weiße Haar wie das Gold, um das die Burenkriege geschlagen worden waren, die Züge wie mit der Engelsfeder gezeichnet. Seine einst so hübschen Hände waren jetzt zu Fäusten geballt, als hielte er krampfhaft an etwas fest. »Ein verwundetes Herz können wir inzwischen flicken«, bekundete Ackroyd traurig, »zumindest an den Ventrikeln und wenn Gott uns gnädig ist. Aber vor einem, das keine Kraft mehr hat, sind wir so hilflos, wie wir immer waren.«
    Mildred sah auf die Lider ihres Mannes und dann wieder Ackroyd ins Gesicht. Was wollte er von ihr? Sollte sie hier sitzen und zuschauen, wie Hyperion starb? Das konnte sie nicht. Sie hatte ihr Hotel und ihre Familie durch einen fünfzigjährigen Sturm gesteuert, aber stillhalten, bis der Tod kam, war zu viel von ihr verlangt. »Ich habe ein Hotel zu leiten«, sagte sie zu Ackroyd. »Wir stehen am Beginn der Hauptsaison.«
    Ackroyd tauchte ein Tuch in eine Schale mit Wasser und betupfte Hyperion die Stirn. »Selbstverständlich, Madam«, sagte er. »Es lässt sich ja auch nichts für Ihren Gatten tun.«
    Sie konnte dennoch nicht gehen. Nicht den Blick von den Lidern lösen, die sich über regengrauen Augen nicht mehr heben würden. Wenn ich es dir jetzt sagen würde, Hyperion, wenn ich dich bäte, mir zu verzeihen, könntest du mich hören? Die Vorstellung, nach all den Jahren die Last abzuwerfen, nahm keine Form an. Dass die Türglocke ertönte, war eine Erleichterung, denn es löste die Starre.
    Vor der Tür, getaucht ins Abendlicht, stand das Mädchen. Ihr Sonnenschein. Selene. »Ich muss dich sprechen, Großmutter«, sagte sie wie immer ohne Umschweife. »Es eilt.«
    Mildred schluckte. Selene mit einer Ausrede abzuspeisen war genauso sinnlos, wie es bei ihr selbst gewesen wäre. »Es wird warten müssen«, erwiderte sie. »Der Großvater liegt im Sterben.«
    »Was?« Im nächsten Augenblick tat sie, was Mildred hatte verhindern wollen, und stürmte an ihr vorbei ins Haus. Es erging ihr, wie es ihr in zwanzig Jahren mit Selene oft ergangen war. In totale Finsternis stahl sich ein Lächeln. Selene war entsetzlich schlecht erzogen für ein Mädchen aus so erlesenem Haus. Selene war goldrichtig. Sie war eine unter Millionen.
    Als Mildred die Zimmertür aufschob, kniete sie bereits vor Hyperions Bett und hielt seine vogelzarten, zu Fäusten gekrampften Hände in ihren. »Großvater«, rief sie, wie sie als kleines Mädchen gerufen hatte, wenn sie allen Verboten zum Trotz in sein Arbeitszimmer gerannt war. »Großvater, du kannst doch nicht sterben! Ich muss dir das Tollste überhaupt erzählen. Stell dir vor, ich fahre nach Belfast, ich werde auf einem riesigen Gerüst stehen und auf den Rumpf der Titanic klopfen. Kannst du das glauben? Ich will dir eine Postkarte senden, Großvater, mit herzlichen Grüßen von der Titanic. Die musst du doch bekommen!«
    Mildred vergaß, dass Hyperion starb und ihre Welt dabei war zu zerplatzen. »Schlag dir das aus dem Kopf«, sagte sie. »Glaubst du, ich habe mich für Mount Othrys aufgeopfert, um es Fremden zu geben? Deine Familie braucht dich, Selene. Irgendein Hirngespinst von Windjammer braucht dich nicht.«
    »Es gibt keine Windjammer mehr«, sagte Selene, ohne Hyperions verkrampfte Hände loszulassen. »Und ich schlage mir nichts aus dem Kopf. Ich bin gekommen, weil ich dachte, mit euch sei leichter zu reden als mit meinen Eltern.«
    Mit uns ist es schwerer, dachte Mildred. Ich kann dich nicht gehen lassen, egal, wohin du willst. Einst hatte sie alles getan, um zu verhindern, dass dieses Kind in die Welt kam. Sie war sogar zu Horatios halb krimineller Frau gelaufen, weil Gerüchte umgingen, sie könne sich um eine Abtreibung kümmern. Aber die Frau, die sich Wochen später von Horatio scheiden ließ, hatte ihr kalt ins Gesicht geschleudert, eine Abtreibung sei Sache der Kindsmutter und gehe sonst

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